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Ebenso wie die Genforschung unserer Tage nach der Entschlüsselung des menschlichen Wesens forscht, versuchte vor über 200 Jahren die Dialektik der Aufklärung mit Hilfe von Lavaters Physiognomik, das Rätsel des Menschseins zu ergründen. Ein bekanntes Sprichwort sagt, daß jedermann ab dem 30. Lebensjahr für sein Gesicht verantwortlich ist. Ein liederlicher Lebenswandel gräbt sich unübersehbar in die Formen und Züge eines Menschenantlitzes ein. Diese Deutung der Wesensart eines Menschen aus seiner leiblichen Erscheinung, die Anfänge der Physiognomik, reichen bis in die Antike zurück. Aristoteles unternahm solche Versuche, und im Mittelalter war es der Arzt und Naturforscher Theophrastus von Hohenheim, bekannter unter dem Namen Paracelsus, der vergleichende Untersuchungen anstellte, die noch in der Renaissance Geltung besaßen.
Johann Caspar Lavater (1741-1811) war Pastor in Zürich. Neben seinem intensiv betriebe nen Pfarramt unterhielt er einen ausgedehnten Briefwechsel mit vielen gelehrten Männern seiner Zeit. Zur Weltberühmtheit verhalf Lavater die Beschäftigung mit der Physiognomik samt dem daraus resultierenden Werk "Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe". In vier großformatigen Bänden, mit 324 Kupferstichtafeln und zahllosen Vignetten ausgestattet, erschien es ab 1775 in Leipzig. Jeder Band kostete 24 Reichstaler. Das Werk war also, wie Lavater meinte, "durchaus nicht für den großen Haufen geschrieben". Rezensenten wie Christoph Martin Wieland oder Johann Gottfried Herder forderten denn auch eine billigere Ausgabe, die indessen erst zehn Jahre später erschien.
Lavater ging von dem Gedanken aus, daß in der Form des Kopfes und in den menschlichen Zügen zuverlässige Merkmale für die Bestimmung des Charakters liegen. Mit großem Aufwand sammelte er ein umfangreiches Material von Stichen, Zeichnungen, Silhouetten, Bildern, um mit ihrer Hilfe die Physiognomik zur Wissenschaft zu erheben. Anhand zahlreicher Beispiele versuchte er, die Wechselwirkungen zwischen dem Äußeren und dem Inneren, der Erscheinung und dem Charakter des Menschen, darzulegen und in gewisse Regeln zu fassen. Lavater traute sich zu, mit einem Blick das Wesen eines Menschen zu erkennen, es zu deuten, ja sogar vorherzusagen, was aus ihm werden könnte. Als Lavater - diese Anekdote erzählte man - im Reisewagen von Zürich nach Schaffhausen einem bescheidenen Mann begegnete, begann er sogleich, diesen zu kennzeichnen "Sanftmütig, liebevoll betreut er andere, nimmt sie an der Hand ..." Da gab sich sein Gegenüber zu erkennen und sagte: "Ich bin der Scharfrichter von Schaffhausen, mein Herr."
Tatsächlich schaffte es Lavater, daß die Beschäftigung mit den Physiognomien zur großen Mode wurde. Alle Welt begann, sich mit der neuen, unterhaltenden Kunst zu befassen. Zu den Helfern des Zürcher Pastors zählten Herder, Merck, Lenz, Füßli, Sulzer und Goethe. Der Weimaraner hat am Text der "Physiognomischen Fragmente" eifrig mitgearbeitet. Eine ganz wichtige Rolle beim Zustandekommen des Werkes spielten natürlich die Illustratoren, von denen Chodowiecki der berühmteste war. In der Sturm- und Drang-Zeit begann man sich gründlicher mit der Porträtkunde zu befassen. Aufgrund des von Lavater erarbeiteten umfangreichen Materials studierte man nicht nur Aussehen und Gestalt, sondern bezog auch die Gebärden und das Auftreten der Menschen in die Wesensdeutung ein. Man verglich Menschen- und Tierphysiognomien, das führte dann zu Bezeichnungen wie Habichtsprofil, Adlernase oder Fuchsgesicht. Lavater war ein streitbarer Mann, der für den christlichen Glauben rücksichtslos eintrat. Als er den Freidenker Goethe mit seinem frommen Eifer immer aufdringlicher bedrängte, kam es zum unausweichlichen Bruch. Goethe hatte seine eigene Glaubenslehre, in "Dichtung und Wahrheit" versuchte er aber, dem ehemaligen Freund gerecht zu werden.
Schon Mathias Claudius meinte in seinem Wandsbecker Boten, Lavaters Versuche, den Charakter des Menschen aus seinen naturgegebenen Qualitätsmerkmalen zu erkennen, berge die Gefahr des Determinismus in sich. Damit kommen wir zu der hochaktuellen Frage nach dem "freien Willen", die nicht nur das akademische Interesse von Philosophen berührt. Wovon hängt es also ab, was ich tue? Von meinem Willen oder etwa von Naturgesetzen, festgelegt in den Genen der Erbanlage? Unsere ganze Rechtsprechung beruht auf der Annahme, daß es eine freie Willensentscheidung des Menschen gibt. Der Determinismus sagt dagegen aus, daß die Willenshandlungen durch innere Ursachen vorherbestimmt sind.
Der Kirchenlehrer Augustinus, um 395 n. Chr. Bischof in der Nähe von Karthago, predigte von der Unfreiheit des Willens, von der totalen Ausgeliefertheit an die Gnade Gottes. Nach Augustinus würde sich wahre Gottgefälligkeit eben auch im wirtschaftlichen Erfolg widerspiegeln. Eine im Endeffekt ähnliche Aussage macht die linke Milieu-Theorie, sie geht davon aus, daß alle Menschen von Natur aus gleich sind. Erst die Einflüsse der sozialen Umwelt bedingen ihre Ungleichheit. Neuere Forschungsergebnisse der Psychologen Eysenck, Shockley und Jensen ergeben eindeutig, daß die Erblichkeit den Menschen mehr bestimmt als sein Milieu. Die Genetiker nehmen an, daß die Intelligenz zu 80 Prozent in den Erbanlagen steckt und nur zu etwa 20 Prozent die Umwelt an der Ausprägung beteiligt ist. Progressive Bildungspolitiker, welche die Gleichheit aller Schüler zum Prinzip erhoben, meinen mit Hilfe der Vorschule, der integrierten Gesamtschule oder der Ganztagsschule - sie alle haben die Milieu-Theorie zur Grundlage - mehr Chancengleichheit erzielen zu können.
In der "Wissenschaft vom Menschen" herrscht Einmütigkeit über die Wechselwirkung biologischer und soziologischer Ursachen bei seiner Gesamtdisposition. Der Mensch ist bei seiner Geburt keineswegs ein "unbeschriebenes Blatt", in das sich die Umwelt erst einschreibt. Für die Gesellschafts- und Bildungspolitik sind die modernen Erkenntnisse der Humangenetiker und Molekularbiologen von tiefgreifender Wirkung, denn sie erklären unter anderem das Entstehen und Vorhandensein der sozialen Klassen.
In den letzten 50 Jahren haben die Naturwissenschaften mit der Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes, des "Genoms", erstaunliche Fortschritte gemacht. War es zunächst die Strukturaufklärung der DNS-Doppelhelix, welche die gesamte Erbinformation eines Individuums enthält (vergl. Das , 17 / 01, Seite 7), so konnte der US-Amerikaner Craig Venter im Jahre 2001 die Reihenfolge (Sequenz) bestimmter Molekülabschnitte (= Gene) innerhalb des DNS-Makromoleküls aufklären. Nur drei bis fünf Prozent der Erbmasse sind Gene. Diese Abschnitte auf den DNS-Molekülen in den Chromosomen bestimmten die Bauanleitung für die Proteine in den Zellen. Mittels der Genom-Analyse möchte man herausfinden, welche Gene für die verschiedenen körperlichen und geistigen Merkmale des Individuums verantwortlich sind. Gendiagnostik und Gentherapie sind die zukunftsträchtigen Gebiete der Humangenomforschung. Aus ihnen erwachsen nicht nur neue Arzneimittel für mancherlei Krankheiten, auch die Einführung von Gen-Tests in der Kriminalistik war möglich, da jeder Mensch seine eigene genetische Individualität besitzt. Der Biochemiker Professor Ernst-Ludwig Winnacker, Präsident der Deutschen Forschungsgesellschaft und Schlüsselfigur der deutschen Gen-Technik, tritt vehement für die Freiheit der Forschung ein.
Sicher ist der Mensch mehr als die Summe seiner Gene. Die Frage aber bleibt: Wird mit dem modernen Wissen über das menschliche Genom die nunmehr seit 100.000 Jahren genetisch stabile Spezies Homo sapiens eine neue Stufe evolutionärer Höhe erreichen?
Klassisches Beispiel: So charakterisierte Johann Caspar Lavater den berühmten englischen Physiker Isaac Newton. |
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