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Langeweile plagt uns im grauen Alltag. Die Sehnsucht nach Abenteuern und harten Mutproben bleibt oft ungestillt. Nur selten erlebt der heutige Mensch Grenzsituationen, die ihn mit Leben und Tod konfrontieren.
Wer die Phantasie zu schätzen weiß, dem öden Einerlei zu entrinnen versucht, der möge dieses Büchlein zur Hand nehmen. In neun Seefahrtgeschichten erzählt der amerikanische Schriftsteller Jack London (1876-1916), wie Menschen, nur auf sich gestellt, fast ausweglose Probleme meistern. Als Matrose fuhr London 1893 an Bord eines Robbenfängers über den Pazifik. Dieses Erlebnis verarbeitete der 17jährige in der preisgekrönten Kurzgeschichte "Ein Taifun vor der japanischen Küste".
Der Autor berichtet von einem cou-ragierten Kombüsenjungen, der seine ganze Mannschaft vor dem grausamen Schicksal bewahrt, nach Sibirien verschleppt zu werden. Auch erfährt der Leser von einem furchtbaren Fall von Kannibalismus, der tatsächlich stattfand. Auf der havarierten "Francis Spaight" gab es keinen Proviant mehr; die Besatzung tötete einen ihrer Kameraden, um Nahrung zu gewinnen. Kaum war die Mordtat vollbracht, erreichte und rettete ein fremdes Schiff das Wrack. Auch die zeitlos großartige Geschichte "Vom Fahren mit kleinen Booten" verdeutlicht Londons wichtigstes Anliegen, nämlich darzulegen, wie man im Kampf gegen die Elemente persönliche Schwäche besiegt und zur Selbstachtung findet.
Herausgeber Frank Grube behauptet, daß Jack London die Theorien Darwins und Nietzsches "völlig unreflektiert" vermischt habe. Man fragt sich voller Entsetzen, welche Geschichten Grube gelesen hat. So ergreift London massiv Partei gegen einen unmenschlichen Kapitän, der sich weigert, einen über Bord gefallenen Seemann zu retten, weil er keine Zeit verlieren möchte. Die zentrale Rolle in "Feuer auf See" spielt der Inselbewohner McCoy, Nachfahre eines Meuterers der "Bounty". Ihm gelingt es, den brennenden Schoner "Pyrenees" in Sicherheit zu bringen. McCoys "Lächeln war eine Liebkosung, eine Umarmung, die Ruhe und Friedlichkeit" einer "ausgeglichenen Seele" widerspiegelte. Von Grubes "Herrenmoral" und "blonder Bestie" ist hier nichts zu entdecken. Auch scheint Grube nicht zu wissen, daß London die sozialistische Bewegung der USA unterstützte und sich für ungerecht behandelte Menschen engagierte, denen er lange Zeit selbst angehört hatte. In Londons Brust wohnten viele und höchst widerspruchsvolle Seelen, auch die sozialdarwinistische, und deshalb darf man ihn nicht in Schablonen zwängen.
1916 beging Jack London, schweren Depressionen erlegen, gerade 40jährig, Selbstmord. Rolf Helfert
Jack London: "Geschichten auf See", Edition Maritim, Bielefeld 2003, 224 Seiten, 16,90 Euro |
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