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"Es gibt nicht nur eine Wahrheit", sagte Willy Brandt, und dieser Devise folgt auch Hermann Schreiber, der Brandts Rücktritt als Bundeskanzler untersucht, aber die Ursachen des Amtsverzichts nicht eindeutig zu klären vermag.
1974 arbeitete Schreiber für den Spiegel. Fundamental neue Erkenntnisse vermittelt dieses Buch, das den bekannten Fernsehfilm anregte, allerdings nicht. Die stärksten Kapitel betreffen die Lebensgeschichte des von Brandt als unsympathisch empfundenen Günter Guillaume, einem langweiligen Parteisoldaten, der sich in das Kanzleramt hochbuckelte. Schreiber erhebt den "Spießer" Guillaume beinahe zur Hauptfigur. Dennoch vertritt er die These, daß dessen Spionagetätigkeit nur letzte Steine ins Rollen brachte, da die "Erträge" der Guillaumeschen Agenten-Tätigkeit gering blieben; sie hätten einen Rücktritt des Kanzlers nicht erfordert.
Nach dem triumphalen Wahlsieg vom November 1972 habe Brandt jegliche Orientierung verloren; große Aufgaben, besonders die Ostpolitik, lagen hinter ihm, und innenpolitische Reformen gerieten ins Stocken. Schreiber hält es für möglich, daß Brandt glaubte, seine historische Rolle ausgespielt zu haben.
Der Autor behauptet, daß Brandt nicht imstande gewesen sei, politisch zu gestalten. Dieser Annahme hat Albrecht Müller, sozialdemokratischer Wahlkampfleiter von 1972, widersprochen, der darauf hinwies, daß die Regierung Brandt beispielsweise die Ölkrise gut abgefangen habe. Jedoch litt Brandt an schweren Depressionen und zeigte sich amtsmüde. Später sagte er: "In Wahrheit war ich kaputt, aus Gründen, die nicht mit dem Fall G. zusammenhingen". Schon früher hatte Brandt erwogen, das Amt niederzulegen. Wichtige sozialdemokratische Politiker, Helmut Schmidt und Wehner, warfen ihm Führungsschwäche vor. Willy Brandt sei "Kanzler der Herzen" gewesen, der gleichwohl Distanz zu Menschen hielt. Es habe ihm "Eindeutigkeit" gefehlt.
Schreiber kann die tieferen Ursachen der Brandtschen Depression nicht definitiv erfassen. Als Brandt erfuhr, daß Guillaume unter Beobachtung stand, glaubte der Kanzler nicht, daß der scheinbar unbedarfte Höfling der Stasi zuarbeitete. Die groteske Wahrheit nahm Brandt anfangs nicht sonderlich ernst. Erst negative öffentliche Reaktionen verstärkten die melancholischen Neigungen. Am 1. Mai 1974, sieben Tage vor dem Abgang, dachte er auf Helgoland an Selbstmord. Die Angst vor einer Pressekampagne, aber auch die Tatsache, daß Wehner und die eigene Frau ihn nicht unterstützten, ließen Brandt resignieren.
Sensationell ist das alles nicht. Aber Schreiber gewährt Einblicke in die sensible Psyche einer wichtigen Persönlichkeit der Zeitgeschichte. Rolf Helfert
Hermann Schreiber: "Kanzlersturz. Warum Willy Brandt zurücktrat", Econ Verlag, München 2003, geb., 272 Seiten, 22,00 Euro |
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