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In Ansehung solcher Entscheidungen ist es nicht weiter verwunderlich, daß das Volk sein Vertrauen in die Strafjustiz, die in seinem Namen richten soll, verliert. Erfahrungsgemäß wird in den meisten Bundesländern nur ein Drittel des gesetzlich möglichen Strafrahmens ausgeschöpft. Strenge Richter wie den zuvor erwähnten „Richter Gnadenlos“ Ronald Schill gibt es zwar auch. Doch können sie gegenüber den übergeordneten Instanzen nur schwer ihre Auffassungen durchsetzen. So erging es auch einer Landgerichtskammer. Sie verhängte gegen einen besonders grausamen Vergewaltiger und Wiederholungstäter sieben Jahre Haft. Zuviel, befand ein BGH-Strafsenat in der Revision und hob das Urteil zur Neuverhandlung auf. Obendrein setzte der Karlsruher Senatsvorsitzende persönlich den Landgerichtspräsidenten telefonisch unter Druck: jene Kammer falle mit ihrer Strenge häufig auf und müsse sich endlich mäßigen.
Die Kritik an den „Samthandschuh-Juristen“ (Nachrichtenmagazin FOCUS) und ihren zu milden Urteilen wird folglich in der Bevölkerung nicht ohne Grund immer lauter. So wirft der Regensburger Professor für Strafrecht Friedrich-Christian Schroeder den Richtern vor, eine „Entfremdung zwischen Rechtsprechung und Staatsvolk“ zu riskieren, weil sie dessen Meinung stets beiseite wischen. Der frühere Generalbundesanwalt Alexander von Stahl geht sogar noch weiter: „Wenn der Staat seinen Strafanspruch zu weit zurücknimmt, fördert er bei den Opfern die Neigung, Vergeltung in die eigene Hand zu nehmen.“ Selbst der keineswegs als Scharfmacher verdächtige Modeschöpfer Wolfgang Joop sieht gerade im Rahmen des Kindesmißbrauchs die Veranlassung zur Selbstjustiz bald gegeben. Schon Johann Wolfgang Goethe sagte: „Der ist schuldig der Tat, der zu strafen Gewalt hat und nicht straft; es spielt alsdann jeder den Herrn“
Wer die Prozeßberichte der Zeitungen liest, wird sich darüber wundern, wie lange Strafprozesse auch dann dauern können, wenn die Sache jedenfalls für den Laien von vorneherein klar erscheint und er meint, wenige Tage würden für den Prozeß ausreichen.
Die Ursache für die extrem lange Prozeßdauer von Strafprozessen ist in der Prozeßordnung selbst und in der Art zu suchen, wie sie von den Angeklagten und ihren Verteidigern genutzt wird. Im Schuld-Strafprozeß wird als Strafmilderungsgrund alles mögliche (und auch alles unmögliche) vorgetragen. Und die Richter müssen solchen Behauptungen nachgehen, wollen sie nicht die Aufhebung des Urteils riskieren. Geht es um Ausländer, so können umständliche, langwierige Beweiserhebungen im jeweiligen Heimatland hinzukommen. Die Strafprozeßordnung (StPO) schreibt vor, daß die Hauptverhandlung grundsätzlich höchstens zehn Tage unterbrochen werden darf. Sonst muß der Prozeß von vorne beginnen oder eine Beweisaufnahme wiederholt werden. „Das führt manchmal“, so der Hamburger Oberlandesgerichtspräsident, „zu abstrusen Ergebnissen. Kann ein wichtiger Zeuge in einem Drogenprozeß erst in zwei bis drei Monaten aus dem Ausland herbeigeschafft werden, muß das Gericht gleichwohl alle zehn Tage zusammenkommen, selbst wenn es im Augenblick nichts Wesentliches zu verhandeln gibt. Richter Staatsanwalt, Protokollführer, Angeklagter und Verteidiger treffen sich also und sagen brav guten Tag. Es wird irgendein Schriftstück verlesen, und man geht wieder auseinander. Die Frist ist zu starr.“ Solche Leerläufigkeit hält nur von dringender Arbeit ab.
Besonders Politprozesse (in denen es die Angeklagten und ihre Sympathisanten darauf anlegen, lautstark zu stören), länderübergreifende Drogendealerprozesse und Prozesse in Wirtschaftsstrafsachen können sich jahrelang hinziehen. In Wirtschaftsstrafsachen hängt das auch damit zusammen, daß die Juristen während ihrer Ausbildung nicht die für Wirtschaftsprozesse nötige Kompetenz erwerben können. Oft haben selbst Volljuristen nach einer sieben- bis neunjährigen Ausbildung nicht einmal das notwendige Basiswissen, um die ökonomischen Zusammenhänge zu begreifen. Sind Ausländer angeklagt, so können Dolmetscherprobleme und sprachliche Mißverständnisse den Prozeß gehörig in die Länge ziehen.
Die Dauer eines Strafprozesses hängt jedoch auch wesentlich von der Verteidigung ab. Ein Prozeß kann von einem Verteidiger dadurch extrem in die Länge gezogen werden, indem er zunächst rügt, das Gericht sei unzuständig. Wenn diese Rüge keinen Erfolg hat, kann er weiter geltend machen, daß das Gericht nicht richtig besetzt sei, z. B. die Schöffen seien nicht ordnungsgemäß gewählt oder geladen worden. Kommt er mit dieser Rüge nicht durch, könnte er darüber hinaus geltend machen, die Richter seien befangen. Das gehört zum Handwerkszeug eines Strafverteidiger. Es gibt Prozesse, in denen wegen solcher Präliminarien der Staatsanwalt erst nach Wochen dazu kommt, seine Anklageschrift zu verlesen.
Kommt man zur Sache selbst, kann der Verteidiger sich an den Formulierungen des polizeilichen Vernehmungsprotokolls stoßen (was durchaus mit gutem Grund geschehen kann) oder unzulässige Vernehmungsmethoden der Polizei geltend machen. Er kann versuchen, daß ein vor der Polizei abgelegtes Geständnis nicht verwertet wird, wenn nicht der Angeklagte ein solches Geständnis überhaupt widerrufen hat. Der Verteidiger kann eine Unzahl von Anträgen stellen, insbesondere die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen beantragen. Auch wenn der Beweiswert gewisser Zeugen gegen null zu tendieren scheint, darf das Gericht die Ladung solcher Zeugen nicht nach Gutdünken ablehnen. Daß viele Beweisanträge nur zur Prozeßverschleppung gestellt werden, läßt sich schwer nachweisen. Der Verteidiger kann Zeugen, auch Kriminalpolizisten und das Opfer, „in die Mangel nehmen“ (und sie eventuell wie in einem amerikanischen Krimi völlig verunsichern). Er kann Gutachten anzweifeln oder für wertlos erklären. Er kann Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Staatsanwälte einlegen. Er kann Diskussionen über alles mögliche auslösen. Wird er gebeten, sich zur Sache zu äußern oder sich kürzer zu fassen, kann er einwenden, seinem Mandanten solle das Recht auf Gehör verweigert werden.
Der erfolgreiche Strafverteidiger muß kein exzellenter Jurist sein (er kann es natürlich). Er muss im Strafprozeßrecht beschlagen sein und den für seinen Mandanten günstigsten Rechtsstandpunkt kennen. Er muß es vor allem verstehen, die Schuldminderungs- und Strafmilderungsgründe herauszuarbeiten. Und er muß auch praktischen Verstand haben, muß für seine Rolle ein guter Psychologe und Rhetoriker sein. Dazu gehört auch die Kenntnis der Mitleids-rhetorik. Es gibt erfolgreiche Strafverteidiger, die es verstehen, in ihrem Schlußplädoyer auch einen mitleidlos-grausamen Verbrecher anzurühren. Wenn der Verteidiger aus dem Angeklagten ein bedauernswertes Opfer der Gesellschaft macht, kann es vorkommen, daß der Angeklagte von sentimentalem Selbstmitleid befallen wird.
Daß Angeklagte, die nicht sicher zu überführen sind, freigesprochen werden müssen, ist ein unverzichtbarer rechtsstaatlicher Grundsatz. Andererseits darf es aber einem Strafverteidiger auch nicht gelingen, Täter freizusprechen, die wegen ihrer Gemeingefährlichkeit dringend „hinter Schloß und Riegel“ gehören. Es ist Aufgabe des Gerichts, es dahin nicht kommen zu lassen. Da es aber Verteidiger gibt, die es verstehen, zum Beispiel aus einem gewalttätigen Mandanten rhetorisch ein „an sich“ friedfertiges Wesen zu konstruieren, das sein Opfer immer geliebt habe, ist es sachdienlich, daß inzwischen das Opfer von Gewalttaten bzw. seine Angehörigen sich der öffentlichen Klage des Staatsanwalts als Nebenkläger anschließen können. Der Anwalt des Nebenklägers kann nunmehr mit seinen juristischen und rhetorischen Fähigkeiten Einseitigkeiten der Verteidigung ausgleichen und zugleich zeigen, daß der Rechtsstaat kein einseitiger Verbrecherschutzstaat sein braucht, sondern auch ein Verbrechensopfern verpflichteter Staat. Den meisten Anwälten gelingt der Rollenwechsel vom Verteidiger zum Angreifer in der Regel ohne Schwierigkeiten. Viele fühlen sich in dieser Rolle sogar wohler. (Schluß)
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