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Erst vor zwei Wochen wurde die U-Bahn-Station Bundesplatz in Berlin-Wilmersdorf gründlich von Graffiti gereinigt. Jetzt sind die Wände wieder verschmiert, die Station wirkt verwahrlost wie eh und je. Dabei ist der Kiez kein Problembezirk, sondern immer noch grundsolide. So wie seine Altbauhäuser, die den Krieg in großer Zahl überstanden haben. Hier verdienen die meisten Leute ihr Geld immer noch selber.
Doch genau das wird von Jahr zu Jahr schwerer. Und deshalb sind die Schmierereien vielleicht mehr als Äußerlichkeiten oder Jugendfolklore. Als der Verfasser dieser Zeilen 1997 hierher zog, kostete der Herrenhaarschnitt (Waschen, Schneiden, Föhnen) beim Stammfriseur 28 Mark, Mittwochs und Samstags nur 25. 2002 wurden die Preise auf 14 Euro bzw. 12,50 Euro umgestellt. Ich fragte den Ladeninhaber, ob das normal sei: Alles würde teurer, Schuhreparatur en, Umweltkarten, Gaststättenpreise, nur sein Friseursalon nicht. - Ja, das sei schon schwierig, erhielt ich zur Antwort, aber dafür habe er mehr Kundschaft. Ende 2003 war der Preis immer noch der gleiche, und ich erkundigte mich, ob man davon leben könne. Dazu brauche man schon die Trinkgelder, sagte die Friseuse, leider würden auch die immer knapper. Im Augenblick laufe das Geschäft besonders schlecht. Seitdem habe ich nicht mehr nachgefragt, auch nicht, als ich im September bloß noch zehn Euro zahlen mußte. Den Grund kannte ich schon. Ein Frisiersalon nebenan, der vor einigen Monaten pleitegegangen war, hatte mit neuer Besetzung wieder eröffnet. Er wirbt mit einem Tiefpreis von - zehn Euro.
Konkurrenz wird zum Kannibalismus. Die Auswirkungen sind manchmal erst aus der Distanz erkennbar. Natürlich kaufe auch ich meinen Grundbedarf bei Aldi und Lidl, aber für den Einkauf zwischendurch und für Sonderwünsche brauche ich den Laden um die Ecke. Anfangs ging ich zu Bolle, einer Berliner Traditionsfirma. Bolle war preiswert und gemütlich, und es gab viel Platz für den Einkaufswagen. Dann kam die Bolle-Krise, und aus Bolle wurde Spar. Die Regale rückten enger zusammen, aber außerhalb der Stoßzeiten konnte ich den Wagen immer noch bequem manövrieren. Dann kam die Spar-Krise. Zu wenig Kunden. Die Filiale blieb zwar erhalten, aber es tauchten Kontrolleure mit Zollstock und Stoppuhr auf. Die Regale rückten noch enger zusammen, und die Gänge wurden mit Grabbelkisten vollgestopft. Dazwischen türmten die Verkäuferinnen hektisch ein Sortiment von Sonderangeboten auf. Die Ruhe war dahin, ich wechselte zu Reichelt.
Reichelt ist ebenfalls eine Berliner Institution und ein wenig teurer. Hier kaufte ich den Sauternes, einen Dessertwein, der den Rochefort-Geschmack abrundet. Doch immer weniger Kunden interessierten sich für das Qualitätsplus. Die Filiale wurde von Edeka übernommen. Jetzt ist es hier schlimmer als bei Spar, und der Sauternes ist aus dem Angebot verschwunden. So wie überhaupt alles aus dem Kiez verschwindet, was über dem einfachen Durst liegt. Der Teeladen am Bundesplatz hat aufgegeben, das Antiquitätengeschäft ist dicht. Vorher hatte sich an seiner Stelle ein Laden für Frankenweine befunden, der ebenfalls schnell pleite machte. Der kleine Buchladen schräg gegenüber ist geschlossen. Die Agentur für Konzert- und Theaterkarten war Ende letzten Jahres mit dem benachbarten Reisebüro zusammengezogen, um sich die Mietkosten zu teilen. Vor zwei Wochen meldete das Reisebüro Insolvenz an, und kurz darauf schloß auch die Agentur. Im Uhrengeschäft in der Blissestraße, einem alten Familienbetrieb, findet gerade der Räumungsverkauf statt. Der große Schönheitssalon, der einem pleitegegangenen Computercafé gefolgt war, hat zu und steht, wie das schicke Sportgeschäft daneben, seit über einem Jahr leer.
Nur der Dönerladen neben Edeka floriert. Der Inhaber hat sogar eine Bank nach draußen gestellt. In der Herbstsonne sitzen - deutsche - Arbeitslose beim Dosenbier. Man ahnt, daß die Schmierereien am U-Bahnhof Bundesplatz im grundsoliden Wilmersdorf keine harmlose Folklore sind, sondern - Zeichen.
"Konkurrenz wird zum Kannibalismus": Familienbetriebe und Traditionsgeschäfte für den "gehobenen Bedarf" verschwinden reihenweise aus dem Straßenbild der Berliner Bezirke.
"Räumungsverkauf" - die zur Zeit am häufigsten anzutreffende Schaufensterdekoration in der Hauptstadt
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