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Original oder Kopie - in diesem Falle keine Frage

 
     
 
Sollen wir, oder sollen wir nicht? Die Frage, ob die aus China anrückende Terrakotta-Armee überhaupt ein Thema für den Kulturteil dieser Zeitung sei, wurde innerhalb der Redaktion durchaus kontrovers diskutiert. Schließlich handelt es sich ja "nur" um Kopien und nicht um Original-Werke, also eigentlich gar nicht um "richtige" Kunst ...

Indirekt war die Frage längst von Europol beantwortet worden. Beamte
des "europäischen FBI" waren im Hafen von Rotterdam auf Kisten mit lebensgroßen Tonfiguren gestoßen und wähnten sich auf den Spuren eines gigantischen internationalen Kunstschmuggels. Es schien sich um Teile der legendären Terrakotta-Armee des altchinesischen Kaisers Qin Shi zu handeln, und die war mittlerweile von der Unesco zum Weltkulturerbe (und von begeisterten Kunstliebhabern zum achten Weltwunder) erklärt worden. Zwei Wochen brauchten Zoll- und Polizeibehörden in dem niederländischen Hafen, bis sie mit Hilfe international renommierter Experten erkannten, daß sie keine Originale, sondern täuschend echte Kopien aufgestöbert hatten. Wenn das keine "richtige" Kunst ist ...

So konnten die 122 lebensgroßen Ton-Krieger, acht Pferde und tausend Soldaten in Schlachtordnung im Maßstab 1:10 ihre Reise von China nach Deutschland fortsetzen, wo sie zur Zeit in einem Großzelt im Zentrum Hamburgs ausgestellt sind (bis 16. November).

Ein Besuch lohnt sich auf jeden Fall. Wer - wie wohl die meisten unserer Leser - nicht die Möglichkeit hat, die beschwerliche Reise nach Lintong in der zentralchinesischen Provinz Shaanxi anzutreten, um die Originale zu sehen, kann hier, anhand der Kopien, einen ausgezeichneten Eindruck von dieser weltweit einmaligen Anlage gewinnen. Zumal die Ausstellung auch didaktisch gut aufgebaut ist.

Hier kurz die Geschichte dieses "Weltwunders": 1974 stießen Bauern beim Brunnenbau auf Tonscherben, die sich als Fragmente lebensgroßer Ton-Figuren erwiesen. Archäologen begannen zu graben; Bis heute förderten sie an die 1.500 tönerne Krieger zu Tage.

Der Schatz hatte über 2.200 Jahre unter der Erde gelegen. Es handelt sich um die Grabanlage des ersten chinesischen Kaisers Qin Shi, eine "Totenarmee" von über 7.500 Soldaten. Wissenschaftler schätzen, daß bei den 38 Jahre andauernden Arbeiten an dieser Anlage 700.000 Menschen mitwirkten. Nach dem Tod des Kaisers im Jahre 210 v. Chr. wurde das komplette Grabmal unter einer 115 Meter hohen Erdpyramide verborgen.

Geradezu faszinierend: Man findet keine zwei völlig identischen Figuren; jede scheint individuell gestaltet. Dabei haben die altchinesischen Künstler und Handwerker sich eines für damalige Zeiten ge-nialen Tricks bedient. In den Werkstätten arbeiteten Spezialisten: einer für Ohren, einer für Frisuren, einer für Bärte und so weiter. Jeder Spezialist hatte etwa zwanzig verschiedene Modelle seiner Gesichts- oder Körperpartie "auf Lager". Die "Oberspezialisten", in deren Händen die künstlerische Gesamtleitung lag, kombinierten diese Module in immer neuen Zusammen- stellungen. Auf diese Weise wären, mathematisch gesehen, noch weitaus mehr als 7.500 unterschiedliche Figuren möglich gewesen.

Wer aufmerksam durch diese Ausstellung geht, kann dies nachempfinden. Man erkennt zwei- oder dreimal die gleiche Nase. Aber der eine von diesen Kriegern hat einen Vollbart, der andere einen Schnäuzer, während der dritte glatt rasiert ist.

Erstaunlicherweise sind die Gesichter, obwohl keines von ihnen aus der Hand nur eines einzigen Künstlers entstand, äußerst ausdrucksstark. Sie wirken entschlossen, ihrer jeweiligen Stellung in der Schlachtordnung bewußt, jedoch keineswegs aggressiv. In der Tat war es ja auch ihre einzige Aufgabe, ihren toten Kaiser in der jenseitigen Welt zu schützen und zu bewachen.

Freilich wäre es grundverkehrt, aus Mimik und Körpersprache dieser so defensiven Terrakotta-Krieger zu schließen, Kaiser Qin Shi sei ein auch nur halbwegs friedliebender Zeitgenosse gewesen. Im Gegenteil: Zu Lebzeiten verkörperte er genau das Gegenteil. Mit brutaler Gewalt eroberte er sechs andere Fürstentümer und schuf so das erste chinesische Kaiserreich. Ein Reich, das nach seinem Tod in Blut und Asche unterging. Das einzige, was von ihm blieb, ist die Totenarmee der Terrakotta-Krieger - und auch das wohl nur, weil sie so lange unentdeckt blieb.

Imposant: Jeweils vier solche Terrakotta-Rösser zogen einen Streitwagen. Virtuelle Individualität: Dank raffinierter Modul-Technik hat jeder Krieger sein eigenes Gesicht.

 
     
     
 
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