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Es ist Ende Januar 1945, die Reinhardts waren bereits aus ihrem Heimatort Steinhagen bei Goldap bis Soweiden nahe Rößel geflohen. Als sie Nachbarn besuchen wollten, die zwei Kilometer von ihnen entfernt Quartier gefunden hatten, hörte Klaus Reinhardts Vater zwischen Kanonendonner auf einmal Gewehrfeuer heraus ein böses Zeichen, die Russen konnten jetzt nicht mehr weit sein. Und tatsächlich: Die Front war auf nur noch sieben Kilometer herangerückt. Bald sollte der junge Klaus Reinhardt die Greuel des russischen Einmarschs erleben. Hier der dritte Teil seiner aufwühlenden Fluchtgeschichte:
Wir sind dann schnell in unser Quartier geritten, haben die nötigsten Sachen aufgeladen. Wir konnten nicht alles mitnehmen, was wir bei der ersten Flucht im Oktober von zu Hause mitgebracht hatten, weil inzwischen der Winter über uns gekommen war und die Straßen unter Schnee lagen. Folglich war es für die Pferde schwerer zu ziehen, und wir mußten ja schnell vorwärts kommen.
Am Montag, dem 29. Januar 1945, etwa um drei Uhr morgens sind wir mit Familie Thiel aufgebrochen. Zu dieser Zeit war der Russe schon in Rößel, nur noch drei Kilometer von uns entfernt. Wir mußten noch etwa einen Kilometer verstiemten Weg fahren bis zur Hauptstraße nach Bischofsstein. Hier war es schon unmöglich, auf die Straße zu kommen, weil wieder alles durch Flüchtlinge verstopft war. Die linke Straßenseite mußte für die Wehrmacht freigehalten werden. Es ist uns dann aber doch gelungen, uns mit unserem Wagen in den Treck einzuordnen.
Zu dieser Zeit wußten wir nicht, daß die Russen Ostdeutschland schon eingekesselt hatten.
Hinter dem Dorf Soweiden konnten wir beobachten, wie die Schützengräben, die man schon im Herbst 1944 ausgehoben hatte, von der Wehrmacht zur Verteidigung besetzt wurden. Hier hat kurz darauf die Wehrmacht den russischen Vormarsch einen Tag lang aufgehalten. Wir sind an dem einen Tag sieben Kilometer bis nach Schellen gekommen. Plötzlich, es war schon dunkel, fing der Russe an, die Straße, die voller Flüchtlinge war, mit Artillerie zu beschießen. Als die Einschläge immer näher kamen, meinte mein Vater, wir müßten sehen, daß wir von dieser Straße runterkommen. Ich solle mal vorgehen und erkunden, ob rechts oder links irgendwo ein Weg von der Hauptstraße abgeht. So bin ich vorge- gangen.
Auf einmal hat mich ein deutscher Panzer überholt, fuhr links von mir auf eine Wiese, etwa hundert Meter von der Straße entfernt. In wenigen Augenblicken verspürte ich eine große Detonation und bin nach einiger Zeit im Straßengraben aufgewacht. Rings um mich her schrien verwundete Menschen, Pferde lagen verwundet auf der Straße oder sind mit den beladenen Wagen durchgegangen. Es war ein heilloses Durcheinander. Ich verspürte nach dem Aufwachen an der rechten Kopfseite Schmerzen. Später, nach Jahren, stellte sich heraus, daß ich von dieser Detonation und vom Luftdruck einen Trommelfellschaden habe und auf dem rechten Ohr schlecht höre.
Was war passiert? Vermutlich ist die Panzerbesatzung so lange gefahren, bis der Sprit alle war, und dann haben sie den Panzer gesprengt. Es war ihnen egal, wo sie standen.
Ich habe mich, sobald ich einigermaßen auf den Füßen stehen konnte, zu unseren Wagen zurück durchgeschlagen, wo ich noch alle unversehrt vorfand. Am nächsten Tag bei Tageslicht konnten wir feststellen, daß ein kopfgroßes Eisenstück durch die Plane unseres Wagens durchgeschlagen war und im Gepäck lag. Wir sind sofort von der Hauptstraße abgebogen und querfeldein etwa zwei Kilometer von der Chaussee auf einen Bauernhof aufgefahren. Der Hof war total von Flüchtlingen überfüllt. Hier trafen wir auch eine Familie Nasner aus Amberg im Kreis Goldap. Meine Mutter und Frau Nasner kannten sich gut.
Am nächsten Morgen, Dienstag, dem 30. Januar 1945, sind wir weitergefahren. Wir hatten mit Familie Thiel beschlossen, uns nach Krausen durchzuschlagen.
Wir fuhren über Groß Köllen in Richtung Bergenthal. Kurz vor Bergenthal stand Deutsche Wehrmacht vor einer Brücke, hielt uns an und fragte, ob wir noch über die Brücke hinüberfahren wollten. Sie hätten den Befehl, die Brücke sofort zu sprengen, weil der Russe schon auf dem Gut Bergenthal sei, etwa einen Kilometer von uns entfernt. Wir haben dann vor der Brücke gewendet und sind nach Groß Köllen zurückgefahren, denn wir wollten ja nicht auf der Straße dem Russen in die Hände fallen.
Nach kurzer Zeit hörten wir die Sprengung der Brücke und sind nun gleich den nächsten, verschneiten Feldweg, der von der Straße abging, zum Vorwerk von Gut Bergenthal, Orlowen, ge-fahren. Auch hier war alles mit Flüchtlingen überfüllt, wir haben aber noch einen Platz im Stall gefunden, wo wir unsere Pferde unterstellen konnten, und es fand sich auch eine Schlafstelle bei den Pferden. In einem Insthaus konnten wir uns bei einer Frau etwas kochen.
Am Nachmittag meinte Vater, wir sollten doch einmal nachschauen, ob unsere Nachbarn Dzwillo aus Steinhagen, die etwa zwei Kilometer von uns entfernt Quartier hatten, noch da seien. Wir setzten uns auf unsere Pferde und ritten etwa einen Kilometer zurück durch den Wald. Als wir aus dem Wald herauskamen, wurden wir plötzlich beschossen. Wir sind dann wieder in den Wald zurück und auf Umwegen zu unseren Nachbarn geritten, die wir auch noch vorfanden. Wir haben nur kurz Bescheid gesagt, wo wir uns aufhalten und sind wieder auf Umwegen durch den Wald zu unserem Quartier zurückgeritten. Der Abend und die Nacht verliefen ruhig und ohne Kampfhandlungen.
Am nächsten Morgen alle Wagen von den Flüchtlingen standen draußen auf dem Gutshof Orlowen beschlossen wir, einige Wagen auf die Scheunentennen zu ziehen. Die Gebrüder Kowalewski aus Loien und wir spannten zwei Pferde an, hängten sie vor die Deichseln und zogen die Wagen auf die Tennen.
Plötzlich fielen meinem Vater zwei Reiter auf, die dem Hof näher kamen. Vater meinte noch, es könnte eine deutsche Patrouille sein. Bei ihrem Näherkommen sahen wir, daß es Russen waren. Wir haben sofort die Scheunentore zugemacht und die Russen beobachtet. Sie kamen bis zum Anfang des Hofes vorgeritten, blieben am Ende eines Stalles stehen und sprachen miteinander.
In diesem Moment ging ein kriegsgefangener Franzose vom Stall zur Scheune er hatte offenbar die zwei Russen nicht bemerkt. Als die Russen ihn sahen, ritt einer von ihnen auf den Franzosen zu und brüllte ihn von hinten auf russisch an, der Franzose erschrak, drehte sich um, hob die Hände hoch und sagte: "Franzoski." In diesem Moment hob der Russe seine Pistole und erschoß den Franzosen. Daraufhin sind wir sofort aus dem hinteren Scheunentor raus und zu der Wohnung, in der unsere Angehörigen waren, gerannt, um zu berichten, was wir gesehen hatten. Nach kurzer Zeit wurde unsere Tür von außen aufgerissen und derselbe Russe, der den Franzosen erschossen hatte, stand mit schußbereiter Pistole im Türrahmen.
Ein kurzer Blick, dann schrie er auf deutsch: "Hände hoch!" Dann fragte er: "Wo Quartiersfrau?" Darauf hat sich die Deputantenfrau, die am Tisch saß und gegessen hatte, gemeldet. Die zweite Frage lautete: "Wo ist Mann?" Die Frau antwortete: "Mann ist Soldat." Darauf der Russe: "Wo?" Sie sagte noch: "In Frankreich", da brüllte der Russe: "Raus, raus" und bedeutete, sie müsse an ihm vorbei zur Tür gehen. Die Frau nahm noch etwas Eßbares vom Tisch und wollte es dem Russen reichen. Er zeigte auf die Tür, und als sie im Türrahmen stand, hat er sie erschossen.
Dann brüllte er: "Alle Uhren auf den Tisch legen!" Als das geschehen war, brüllte er: "Alle Männer die Stiefel ausziehen!" Als das passiert war, schritt er zum Tisch, steckte alle Uhren in die Taschen, bedeutete August Kowalewski, ihm die Stiefel zu tragen, und ging aus der Wohnung. August Kowalewski mußte vor ihm bis auf den Gutshof die Stiefel tragen. Hier hatte schon der andere Russe einen Schlitten anspannen lassen, wo die Stiefel nun aufgeladen wurden. Die zwei Reitpferde haben sie an den Schlitten gebunden und sind Richtung Bergenthal abgefahren.
Nach einiger Zeit sind andere Russen auf den Hof gekommen, sahen den toten Franzosen liegen und dachten wohl, es sei ein toter Russe, weil er auch braune Uniform trug, ähnlich den Russen. Als sie aber feststellten, daß es ein Franzose war, fragten sie einen Polen, wer ihn erschossen hat. Als der Pole ihnen sagte, daß es Russen waren, schüttelten sie nur den Kopf und befahlen uns, die zwei Leichen zu beerdigen. Wir haben dann mit zwei anderen französischen Kriegsgefangenen unweit des Gutshofes ein Grab ausgehoben und die zwei Erschossenen zusammen beerdigt.
An den darauf folgenden Tagen blieb es ruhig. Wir haben zwei Tage keine Russen mehr gesehen. Nach drei Tagen sind wir auf den Hof von Neuwald nach Krausen gezogen, wo Familie Dunkel aus Steinhagen auch Quartier hatte. Bald aber kamen die Russen bei Tag und auch bei Nacht, vergewaltigten Frauen und Mädchen und nahmen alles mit, was ihnen in die Hände kam.
Nach ein paar Tagen erschienen etwa zehn Russen auf dem Hof von Neuwald und nahmen sämtliche Pferde mit, auch unsere. Am 9. Februar 1945 wurde dann bekanntgegeben, daß sich sämtliche Männer vom 15. bis 60. Lebensjahr im Dorf Krausen an einer bestimmten Stelle zum Arbeitseinsatz zu melden hätten. Mein Vater ahnte gleich, daß es eine Finte sei, was sich auch bewahrheitete. Wir versteckten uns. Diejenigen, die sich im Ort versammelten, wurden umgehend, ohne ihre Familien zu benachrichtigen, nach Sibirien abtransportiert. Von Steinhagen waren es Max Columbus, Fritz Nehrke, Hermann Dzwillo, Rudolf Bolk und Otto Henseleit. Zurückgekommen ist nur Rudolf Bolk, der das Glück hatte, sich auf dem Transport verstecken zu können. Die anderen sind wohl schon auf dem Transport verhungert, erfroren oder in Sibirien verstorben.
Einige Tage später kamen dann wieder Russen auf den Hof und befahlen, daß wir sämtliches Vieh auf den Hof von Saldit, Krausen, treiben, wo die Russen schon eine Kolchose eingerichtet hatten. Wir mußten auch gleich dableiben und das Vieh versorgen. Am Abend durften wir wieder in unser Quartier zurück, mit der Auflage, am nächsten Morgen wiederzukommen. Das haben wir auch befolgt, zumal wir in der Kolchose sicherer waren als auf dem Gehöft im Abbau. So ging es dann etwa vier Wochen, morgens zur Kolchose und abends ins Quartier.
Immer wieder Übergriffe, Greueltaten und die ständige Furcht vor Verschleppung doch mit Mut und Geschicklichkeit helfen sich die Reinhardts über die finstere Zeit
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