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Urlaub von der Flimmerkiste

 
     
 
Man hatte mich zur Kur geschickt. Überarbeitung, Nervosität, allgemeine Erschöpfung. Wir kennen das ja: Die Hetzjagd am Tage, des lieben Geldes wegen - und dann die Verbrecherjagd am Abend vor dem heimischen Bildschirm, der lieben Entspannung wegen. Wer kennt das nicht?

Es war ein wunderbarer Kurort. Ein wunderschönes Haus. Und viele nette Mitkurgäste. Vor allem aber gab es - was mich am meisten beruhigte - keinen Fernsehapparat. Kein Grund also anzunehmen, daß ich mich nicht vortrefflich erholen würde.

Am Abend des Ankunftstages trafen wir uns alle erstmals im Speiseraum zum Essen. Zu meiner Rechten saß eine nette, ältere Dame. Plötzlich legte sie das Eßbesteck beiseite, blickte auf ihre Armbanduhr und sagte über den Tisch hinweg: "Jetzt schalten sie zu Hause bestimmt für Marianne das Sandmännchen ein." Dann nahm sie ihr Eßbesteck wieder auf und aß weiter. Dreieinhalb Sekunden später fragte sie: "Interessieren Sie sich auch so fürs Werbefernsehen?"

"Eigentlich nicht", erwiderte ich, ein Stückchen Salami zerkauend.

"Das wundert mich aber", erhielt ich zur Antwort. "Jeder aufgeschlossene Mensch muß doch zum Beispiel wissen, welches Weiß das weißeste Weiß durch ein noch weißeres Weiß übertrifft - und wann man den Arzt oder Apotheker anrufen muß."

Als wir beim Käse
angelangt waren, setzte meine Nachbarin eine geheimnisvolle Miene auf und verriet mir flüsternd das Herstellungsland jenes Käses, den wir gerade aßen. Ich sah sie erstaunt an und fragte: "Woher wissen Sie denn das?"

Sehr schlicht und bescheiden erwiderte sie: "Aus der Fernsehwerbung natürlich! Aber nennen wir es getrost Allgemeinbildung. Man weiß es eben."

Nach dem Abendessen versammelten wir uns dann noch für ein Weilchen im Gemeinschaftsraum. Kleines Plauderstündchen vor dem Schlafengehen. Meine gebildete Tischnachbarin während des Abendessens saß - der Kuckuck mochte wissen warum - auch jetzt wieder neben mir. Sie starrte unentwegt auf die Reproduktion eines nichtssagenden Ölgemäldes an der Wand uns gegenüber. Dieses Gemälde hatte unverkennbar die Größe eines 59er Bildschirms. "Jetzt wird der Detektiv", sagte sie, "den Täter längst auf frischer Tat ertappt haben."

"Welcher Detektiv?" fragte ich.

"Na, der aus dem Vorabendprogramm. Kann auch der Kommissar sein. Und dann beginnt ja auch schon bald die Tagesschau. Die Wetterkarte hätte ich auch gern gesehen. Man muß doch wissen, ob das osteuropäische Hoch anhält." Ich nickte und schwieg.

Meine Nachbarin starrte immer noch auf das Gemälde an der Wand und meinte: "Nachher steht wieder ein entzückender Tierfilm auf dem Programm. Es gibt wirklich nicht genügend Platz für all die Tiere - finden Sie nicht auch?"

"Da haben Sie vollkommen recht", erwiderte ich.

"Später gibt s noch ein Fernsehspiel", sagte meine Tischnachbarin. "Ein Familiendrama. Aufklärung der Eltern durch ihre Kinder. Sehr sehenswert und aufschlußreich. Eine Wiederholung vom 6. Juni 1986."

Gegen 21.30 Uhr - also vermutlich, noch bevor die Kinder ihre Eltern aufgeklärt hatten - wünschten wir uns alle eine gute erste Nacht.

Zu allem Überfluß ergriff Mariannes Oma meinen Rockärmel und sagte: "Schade, daß sie hier keinen Fernsehapparat haben! Wirklich sehr schade! Ich hätte nämlich wirklich gern morgen Nachmittag den Fliege und morgen Abend den Jauch gesehen. Man ist ja von allem wie abgeschnitten, weiß überhaupt nicht mehr, was um einen herum geschieht. Finden Sie nicht auch?"

Am ersten Abend meines Kuraufenthaltes schrieb ich an meine Frau: "Es ist alles wunderbar hier! Leider gibt es auch einen Fernsehapparat. Er sitzt rechts neben mir!"
 
     
     
 
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