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Vaterland ohne Väter

 
     
 
Immer wieder setzt Arno Surminski sich mit Themen der jüngsten Vergangenheit auseinander. Auch in seinem neuen Roman "Vaterland ohne Väter", der ab 20. August im Buchhandel erhältlich ist, hat er den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen thematisiert. Mit freundlicher Genehmigung des Ullstein Verlags veröffentlichen wir nachstehend einen Auszug:

Wie soll ich beginnen? Das Dorf liegt an die tausend Kilometer östlich meines eingeschneiten Gartens. Wie es heute heißt, weiß ich nicht. Es könnte ihm so ergangen sein wie diesem Stalingrad, das auch seinen Namen verloren hat. Eines Tages werde ich, aber es müßte im Juni geschehen, nach Osten fahren, um es zu suchen. Bis ich es gefunden habe, stelle ich mir ein Straßendorf vor, am Ende ein eingeschneites Bauernhaus, aus dessen Schornstein weißer Rauch steigt. An jenem 31. Januar heizten sie die Stuben tüchtig ein, damit das Neugeborene sich nicht erkältet. Am Fenster werden Eisblume
n geblüht haben. Wo gibt es heute noch Eisblumen? Durch ein Guck-loch im Eis ging der Blick über weit verschneite Felder zu einer einsamen Straße, die nach Osten führte, immer weiter nach Osten.

Vier Wochen bin ich im Ruhestand, und es ist immer noch Winter. Wegener behauptet, dieser Winter sei so streng wie die Winter im Osten. Ich weiß es nicht, ich habe nur zwei Jahre in Podwangen gelebt, in meiner Erinnerung war immer Sommer. Der Tag beginnt mit einem sonnigen Morgen, die Bäume in meinem Garten haben Lichter aufgesteckt. So stelle ich mir eine Winterlandschaft in Rußland vor oder in meinem unbekannten Dorf.

Ich will nun endlich mit meinem Vater beginnen. Oder soll ich bis zum Sommer warten, wenn die Sonne hoch steht, Blumen und Bäume blühen? Juni wäre eine schöne Zeit. Wie konnte dieser unselige Mensch in der Mittsommernacht einen Krieg anfangen! Allein das war gegen die Natur und konnte nicht gutgehen.

Ich ziehe mich warm an und laufe ziellos durch die Straßen. Die Schneeluft soll mich auf andere Gedanken bringen, ich will an frisches Brot und warmen Kaffee denken, auch an Prishtina, wo es schon frühlingshaft warm ist. Auf dem Marktplatz treffe ich die alte Frau Gentsch aus dem Nachbarhaus. Sie behauptet, einen so strengen Winter habe sie zuletzt 1941/42 erlebt. Da bin ich wieder bei meiner alten Geschichte, dem Guckloch im Fenstereis, den Scherenschnitten am Horizont, und Robert Rosen begleitet mich auf jener Straße, die immer weiter nach Osten führt. Als ich nach Hause komme, treffe ich mit dem Briefträger zusammen, der Mühe hat, sein Fahrrad durch den Schnee zu schieben. Er bringt mir einen dicken Umschlag von Wegener. Als ich die Haustür öffne, höre ich das Telefon, komme aber zu spät. Wer mag da angerufen haben? Wegener, mein Junge aus Prishtina oder eine unbekannte Stimme aus der Vergangenheit?

Wegener schickt mir die vollständige Spartarede. Dreieinhalb Jahre später hat der Kerl Gift geschluckt, steht am Rand des Textes. Ich finde Sparta tief im Süden. Kaum vorstellbar, daß dort am 31. Januar 1943 Schnee gefallen ist. Außerdem steckt in dem Umschlag das Tagebuch jenes Westfalen, der mit Napoleon nach Rußland gezogen ist. Schon wieder Rußland. Was ich auch berühre, höre, lese, es führt mich nach Osten.

Ich verzichte auf die Abendnachrichten im Fernsehen und setze mich an den Schreibtisch. Zu meinen Füßen das gelbe Paket, das Tante Ingeborg mir vor ihrem Tod geschickt hat. Bevor ich es öffne, lese ich die Spartarede:

Die Helden der Nibelungen kämpften in einer Hölle von Feuer und Flammen und stillten ihren Durst mit dem eigenen Blut. So kämpfen sie jetzt auch in Stalingrad. Noch in tausend Jahren wird jeder Deutsche mit Ehrfurcht über Stalingrad sprechen ...

Einige nennen sie auch die Nibelungenrede, schreibt Wegener an den Rand. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Und dann doch noch Sparta:

Wanderer, kommst du nach Deutschland, berichte, du hast uns hier sterben gesehen, wie das Gesetz es befahl.

Vorsichtig löse ich den Bindfaden, immer in Sorge, es könnte mir etwas Erschreckendes entgegenspringen, ein modriger Gestank mich anwehen. Zur Abdeckung braunes Packpapier und eine Illustrierte aus dem Jahre 1962 mit Bildern von der Hamburger Sturmflut. Darunter mehrere Hefte, deren Deckel mit handgeschriebenen Daten versehen sind: 21. Juni bis 25. Juli lese ich auf dem Heft. Das ist die Handschrift meines Vaters. Außerdem finde ich eine zusammengefaltete Landkarte Osteuropas von Polen bis zum Ural, anderthalb Meter im Quadrat. Auf die Rückseite hat Tante Ingeborg geschrieben: Die Karte hing ab Juli 1941 in unserer guten Stube in Königsberg. Im Dezember 1944 wurde sie abgehängt und ging mit auf große Fahrt.

Im Dezember 1944 brauchten die Königsberger keine Rußlandkarten mehr.

Ich hefte die Karte mit Stecknadeln an die Wand über meinem Schreibtisch. Ein Riesenraum öffnet sich, ein Tor springt auf, Schnee weht mir ins Gesicht, Bäume brechen unter der weißen Last, Kälte strömt mir entgegen. Vor mir eine weiße Landschaft, in der wie Strichmännchen feldgraue Figuren umherirren. Ich entdecke schwarze und rote Linien, Kreuze, die so aussehen, als ständen sie auf Gräbern. Und die Kreise nicht zu vergessen, sie markieren die Kessel. "In den Kesseln faulte das Wasser", sang mein Vater, als er marschierte. Ganz unten rechts finde ich Stalingrad, ein unerhört ferner Ort, fast könnte man denken, er gehöre nicht zu Europa. Die Stadt Leningrad links oben hat auch ihren Namen verloren. Nur Moskau ist geblieben. Ich entdecke Nadelstiche im alten Papier. Da steckten die Siegesfähnchen mit dem Hakenkreuz. Um Stalingrad bilden viele Nadelstiche einen Kreis, das war der Kessel ... Wanderer, kommst du nach Sparta ...

Aus den Briefen des Walter Pusch fällt ein verblichenes Foto. Es zeigt drei vermummte Männer in den damals üblichen Uniformen, dahinter eine Schneelandschaft wie in meinem Garten. Ein schwarzweißes Bild, aber doch mehr Weiß. Schwarz sind nur die Männer und das Ungetüm von Kanone im Hintergrund. Auf die Rückseite hat Walter Pusch geschrieben:

Drei Kameraden mit Kanone im Wald bei Orscha: Rosen, Godewind und ich.

Die Reihenfolge hat er nicht angegeben. Wie soll ich herausfinden, wer von ihnen mein Vater ist? Etwa der Kleine in der Mitte? Niemand hat mir gesagt, ob mein Vater groß oder klein war, ob er schwarzes Haar trug oder blondes. Und seine Augen, waren sie blau oder braun?

Ich hänge das Foto neben die große Karte, so daß die Männer mich anschauen. Sie werden mich begleiten auf meiner Zeitreise, werden mir helfen, wenn ich den Faden verliere. Ich entscheide mich für den in der Mitte, der trotz großer Kälte im Wald bei Orscha ein freundliches Gesicht macht. Mein Vater war damals zweiundzwanzig Jahre alt. Unscheinbar hängt er an der Wand, geht fast unter im endlosen Weiß der Karte und wird immer älter. Das ist das Faszinierende an alten Fotos, sie zeigen uns Menschen, die schon lange tot sind. Ihr Lächeln ist erfroren, ihre Augen sind erstarrt, nur auf den Bildern leben sie noch.

 

Arno Surminski: Vaterland ohne Väter, Roman. Ullstein Verlag, Berlin, 456 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 22 Euro; ab 20. August im Handel

 

Eichenallee Jäglack / Barten in Ostdeutschland: In dieser Gegend verbrachte Arno Surminski seine ersten Lebensjahre. Foto: aus "Ein Dorf in Ostdeutschland", Ronneberg 2002

 
     
     
 
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