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Versöhnung über Gräbern

 
     
 
Vor zehn Jahren hat Bundeskanzler Helmut Kohl die Einladung zur 50-Jahr-Feier der Invasion in der Normandie ausgeschlagen - das war richtig so. In diesem Jahr hat Bundeskanzler Gerhard Schröder die Einladung zur 60-Jahr-Feier angenommen - das war ebenfalls richtig so. Die Zeiten haben sich gewandelt, die handelnden Personen sind andere (zumindest einige von ihnen), also kann, was vor einem Jahrzehnt noch richtig war, heute durchaus falsch sein.

Schröder ist der erste Bundeskanzler, den man der Nachkriegsgeneration zurechnen kann. Er war bei Kriegsende ein Jahr alt, am Tag der Invasion gar ganze zwei Monate. Kohl hingegen erlebte das Kriegsende als 15jähriger; er stand - selbstverständlich nur vom Alter her - für das alte Deutschland, während sein Nachfolger das junge, das neue Deutschland verkörpert.

So sehen das auch unsere Nachbarn. In den letzten drei Wochen konnte ich intensiv die französischen Medien beobachten. Mir fiel auf, wie oft gerade jüngere Franzosen betonen, daß "Deutschland heute (damit sind die Deutschen von heute gemeint) überhaupt nichts gemein hat mit dem Deutschland des Krieges, des Hitlerregimes, des National
sozialismus, des Holocaust". Und so manches Mal hätte ich mir gewünscht, auch von jüngeren Deutschen Aussagen zu hören wie: "Deutschland ist viel mehr als Hitler und Krieg!"

Vor zehn Jahren war Kohl noch eher als Repräsentant jener eingeladen, die einst die Schlacht um die Normandie und schließlich den Weltkrieg verloren hatten. Daß er es vorzog, daheim zu bleiben und die Sieger unter sich feiern zu lassen, war verständlich und richtig. Diesmal war der Kanzler nicht als Verlierer, sondern als Partner und Freund geladen, was auch dem gewandelten Deutschlandbild bei unseren westlichen Nachbarn entspricht. Eine Absage wäre diesmal falsch gewesen.

Hinzu kommt: Gerhard Schröder, dessen Politik in dieser Zeitung oft und heftig kritisiert wird, hat sich diesmal ein großes Lob verdient. Selten hat ein deutscher Spitzenpolitiker bei einem Auftritt im Ausland - zumal bei einem dermaßen spektakulären und sensiblen - eine so gute Figur gemacht wie unser Bundeskanzler an diesem 6. Juni.

Daß der Sozialdemokrat Schröder bestimmte Dinge anders formuliert als beispielsweise ein Repräsentant des rechten Flügels der Union, sollte in diesem Zusammenhang nicht überbewertet werden. Von den Hunderttausenden, die an diesem Tag in die Normandie gekommen waren, dürfte kaum jemanden interessiert haben, welcher Nuancierungen sich der Gast aus Deutschland bei heiklen Fragen der Zeitgeschichte bedient oder ob er vielleicht doch auf dem falschen Friedhof war: Die ganze Art, wie Schröder hier aufgetreten ist, hat großen Eindruck gemacht. Und das tut unserem Land einfach gut.

Der Gastgeber, Präsident Chirac, gestaltete den 60. Jahrestag der Invasion ganz bewußt nicht als Siegesfeier (wie vor zehn Jahren, und daher auch zu Recht ohne deutsche Beteiligung), sondern als deutsch-französisches Freundschaftsfest. Wenn er sich noch dazu aufraffen könnte, diese Haltung in die von seiner Regierung betriebene Globalisierungs-, Europa- und Industriepolitik einfließen zu lassen, dann könnte dieser 6. Juni 2004 beträchtliche Signalwirkung auch für die osterweiterte EU haben. Hier gibt es noch erheblichen Nachholbedarf - nicht in Berlin, sondern in Paris. Und auch in Warschau und Prag.

PS: Seit vielen Jahren besuche ich regelmäßig den Friedhof von Tregier in der Bretagne; das von Einheimischen gepflegte Gräberfeld mit den Ruhestätten deutscher Soldaten habe ich noch nie ohne frischen Blumenschmuck gesehen - ein kleines, aber eindrucksvolles Stück "Versöhnung über Gräbern".

 

Würdevoll, aber nicht unterwürfig: Auf dem Soldatenfriedhof von Ranville bei Caen gedachte Bundeskanzler Gerhard Schröder deutscher und britischer Opfer der Schlacht um die Normandie im Sommer 1944 - ein deutlich anderes Bild ist jenes von Willy Brandts Kniefall in Warschau.

 
     
     
 
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