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Viele neue Erfahrungen

 
     
 
Ich treffe im Ostheim in Bad Pyrmont zur 49. Werkwoche ein. Im Ostheimgarten begrüßt ein "Trakehnerhengst" die Gäste und lud mich, zumindest gedanklich, zum Aufsitzen ein, um im raschen Galopp zum Frischen Haff zu gelangen, dort wo ich den diesjährigen unvergeßlichen Sommerurlaub verbrachte. Vom Ausritt zurück, im Ostheim bezog ich das Zimmer mit dem Königsberger Stadtwappen, welches ich mit einer erfahrenen Werkwochen-Teilnehmerin bewohnte. Alle Zimmer sind neben der Numerierung auch mit Wappen gekennzeichnet, die jeden Zimmereingang im langen Flur hervorheben. Gemälde, die das Leben und Wirtschaften in Ostdeutschland widerspiegeln zieren die Wände.

Jetzt bin ich gespannt auf das Zusammentreffen um 16 Uhr im Preußensaal. Inzwischen habe ich schon erfahren, wo ich Getränke beziehen kann und daß ich am Morgen um 7 Uhr geweckt werde, also keinen Wecker brauche.

Jetzt geht es los - wir werden von Uta Lüttich (Bundesvorsitzende der ostdeutschen Frauenkreis
e) begrüßt, in das Motto "Erhalten und Gestalten" eingeführt und mit dem Ablauf der Werkwoche bekanntgemacht. Wir erfahren, daß wir von sieben Werklehrerinnen in den vier Grundtechniken: Stricken, Sticken, Schneidern und Weben unterrichtet werden. Jede Teilnehmerin konnte sich ihr Fach oder Fächer zuvor aussuchen, und daher sind die Gruppen in der Teilnehmeranzahl sehr unterschiedlich. Doch wenn ich an meine Schul- und Lehrzeit zurück-denke, war das Zahlenverhältnis zwischen Lehrer und Lernenden nie so günstig. Um uns, vor allem den Anfängern, eine Vorstellung von den Möglichkeiten jeder einzelnen handarbeitlichen Kunst zu geben, präsentierten alle Lehrerinnen ihr Anschauungsmaterial. Somit bildeten die Kunst und der Name der Werklehrerin schon gleich eine Symbiose, was für mein Namensgedächtnis sehr von Vorteil war.

Die angebotenen Künste verteilen sich auf sechs Gruppen: Im Musterstricken mit Christel Klawoon standen verschiedene "Handschkes" auf dem Programm, wie Schlaufenhandschuhe, Memeler Handschuh oder auch Haken von Fingerhandschuhen; die kalte Jahreszeit konnte kommen, denn für die Handbekleidung wird gesorgt. Die Kunst des Doppelstrickens konnte auch erlernt werden mit dem Vorteil, daß die sogenannte Rückseite des Gestrickten so hübsch aussieht wie die Vorderseite.

Weißsticken mit Ute Tenzer, diese Technik bedarf eines, besser gesagt zweier scharfer Augen, denn auf zwei Zentimeter sollten sich mindestens 33 Fäden versammeln und diese werden dann Ton in Ton (meist auf weißem Stoff mit weißem Garn) mit feiner Nadel bearbeitet, so daß ganz zarte Stickgebilde dem Stoff entwachsen, wie auch beim Blusenkoller für das Ostdeutschlandkleid zu bestaunen ist.

Typische Motive bei der Kreuzstickerei wie Elch, Menschenpaar, Baum, Kurenkahn, Pferd und noch Allerlei zeigte Waltraut Bartholomeyczik. Mit dieser Technik und in Kontrastfarbe lassen sich auch Tischtücher, Servietten, Wand- behang und Weihnachtskarten schmücken.

Beim Trachtenschneidern werden unter Anleitung von Edith Huwe die zugeschnittenen Teile von Bluse, Rock und Mieder zusammengesetzt und in Façon gebracht. Mit geduldiger Hand und einer besonderen Technik wird die Taille am Rockteil eingepaßt, auch die Puffärmel an der Bluse haben ihren besonderen Reiz. Sie wird unterstützt von Dr. Marianne Kopp, die die Nähstube leitet und geduldig das Nähen des Ostdeutschlandkleides und der dazugehörigen Blusen anleitet und überwacht.

Über das Weben bei Dagmar Adomeit kann ich ausführlicher berichten, denn einer ihrer vier Gesellinnen war ich. Nach dem Zusammenbau des Webrahmens folgt das Kettfaden-Einmaleins. Ja richtig - erst rechnen, dann zählen, scheren, bündeln, die Kettfäden zwischen den Kämmen einspannen und nun quer dazu, mit dem Weben beginnen. Nun lassen sich Muster ohne Zahl aneinander reihen, einfache und komplizierte, einfarbig oder zweifarbig, mit Lochmuster oder ohne, ganz nach persönlichem Geschmack. Nicht zu vergessen, wenn auch nicht beabsichtigt, waren Webfehler rasch gewoben und die Korrektur nur im Rückwärtsgang praktikabel. Nun alles soll gelernt sein, auch die Rückschritte. Weben läßt sich so allerhand, wie Tischdeck-chen, Läufer, Kissenbezüge, Gardinen, Wandbehänge ... und ist erst das Gewebe, der Stoff vorhanden, kann er weiterverarbeitet werden zu einer Weste oder dergleichen. Doch es gibt noch eine andere Art, nämlich das Webknüpfen. Hier werden die Knüpffäden statt auf Stramin an die Kettfäden geknüpft und mit zwei Webreihen befestigt.

Beim Doppelweben am Webstuhl mit Barbara Lorenzen legten sich zwei schon geübte Weberinnen mächtig ins Zeug, um diese Kunst mit all ihren Tücken kennenzulernen. Diese Technik zeigt wie beim Doppelstricken auf beiden Seiten des Gewebes, also rechts und links, ein vollständiges Bild. Der Unterschied liegt darin, daß sich bei den Motiven die Farben umgekehrt zeigen. Wie mir scheint, liegt das erschwerte Vorgehen in der Unsichtbarkeit einiger Webschritte und daher braucht es eine gute Portion Weberkunst. Die Anwendungsmöglichkeiten sind ähnlich wie beim Weben, zu dem lassen sich auch Taschen und Umhängebeutel daraus herstellen.

Neben den zuvor erwähnten Gruppen gab es im Abendprogramm noch weitere Möglichkeiten, das handwerkliche Geschick zu erproben und aufzuwerten. Die Hardanger- und Ajourstickerei, auch Basteleien, das Weben von Jostenbändern, das Spinnen am Spinnrad, sowie das Einüben eines Volkstanzes erweiterten das schon bestehende Programm.

Im 2. Programmteil des ersten Tages erfahren wir eine Einführung in die Werkwoche auf ganz andere Art. Dr. Marianne Kopp berichtet uns über die dichterischen Anfänge bei Agnes Miegel. Mit Kostproben aus den Werken von Agnes Miegel endet der offizielle Abend.

Am Morgen erschallte vom Flur her ein fröhlicher Gesang mit einem frischen "Guten Morgen", der mich aus dem Schlaf holte. Meine Zimmernachbarin gehörte zum singenden Weckdienst und dieser zog von Flur zu Flur. In einer Stunde gibt es Frühstück. Wenn man weiterschlief, war die Zeit zu knapp, doch meist blieb noch Zeit zum Plaudern, Lesen oder auch für einen Spaziergang.

Alle Mahlzeiten wurden in der Regel gemeinsam begonnen und beendet. Vor dem Frühstück kamen die Dichter und Denker zu Wort. Uta Lüttich hatte jeden Morgen einen Ausspruch herausgesucht und vorgelesen. Singe wem Gesang gegeben war das Thema nach der Morgengymnastik, und mit jedem weiteren Lied wurde die Sängerschar munterer, bekannte Texte und Melodien waren gleich im Ohr und Unbekanntes brauchte Übung. Singen bereitet grundsätzlich Freude und fördert die rasche Zufuhr von Sauerstoff und bringt den Kreislauf in Schwung. Mit diesem Ergebnis begann am Dienstag die Werkwoche. Die Trachtenschneiderinnen begaben sich auf den Weg in den Keller zu ihren Werkräumen. Die anderen Teilnehmerinnen erhielten eine Einführung im Musterzeichnen. Eine wertvolle Hilfe zur Gestaltung eigener Motive und Figuren beim Sticken, Stricken oder Weben. Dieser Abschnitt wurde mit dem Mittagstisch abgeschlossen. Ich hatte den Eindruck, daß bei der Zusammenstellung des Speiseplans für diese Woche eine kulinarische Erweiterung auf dem Gebiet der ostdeutschen Gaumenfreuden nicht vorgesehen war. Hier sehe ich noch ausbaufähiges Potential.

Die Pause nach dem Mittagstisch konnte persönlich gestaltet werden. Es boten sich verschiedene Gelegenheiten, wie Spazierengehen im Park, Einkäufe tätigen, ins Schwimmbad gehen, ... und am Dienstag hatten wir das Ehepaar Peters von der Handweberei Velpke in Velpke zu Gast, bei ihnen können alle Trachtenstoffe und andere Stoffe bezogen werden. Ich war überrascht über die feinen Muster, sie wirkten auf mich wie gemalt. Bei einem anderen Stoff vermutete ich eine Stickerei, doch es war gewebt, unglaublich was es alles gibt. Über die Farbkombinationen der Trachtenstoffe, wie auch über die regionalen Unterschiede konnte ich mir ein Bild machen. Eine Kaffee- und Teepause erwartete uns vor dem Start in den Nachmittag. In den folgenden drei Stunden erwarb ich mir das Wissen zur Vorbereitung des Webrahmens und nach dem Abendessen begann ich mit dem eigentlichen Weben. Dieser enorme Zeitaufwand überraschte mich, damit hatte ich doch nicht gerechnet. Dadurch entstand ein gewisser Zeitdruck, da zur Vollendung der Arbeit nur noch gut drei Tage verblieben.

Diese Woche verdient den Namen Werkwoche, da ein ausgereiftes Tagespensum zu erbringen ist. Die Zeit verging wie im Flug und der Samstagnachmittag, der Ausstellungstermin, stand vor der Tür. Nun wird der Preußensaal hergerichtet, mit vereinten Kräften werden die Tische zu einer großen Tafel zusammengestellt und die Stühle ringsum an den Wänden plaziert. Jede Gruppe nimmt ihren Ausstellungsplatz auf der Tafel ein, die angefertigten Schätze werden geschmackvoll zusammengestellt und wirken wie ein gemeinsames Kunstwerk. Bevor die Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich wird, ist der Augenschmaus uns vorbehalten. Bis die ersten Gäste den Raum betreten, bleibt noch Zeit, unseren Dank den Werklehrerinnen entgegenzubringen, und jede Gruppe gestaltet dies auf ihre individuelle Weise.

Die Gäste betrachten die verschiedenen Handarbeiten und erhalten fachkundige Auskunft zu den einzelnen Arbeiten. Die Besucher haben keine Eile, sie genießen den Rundgang um den Tisch, verharren dann und wann, nicht zu letzt beim Anblick des Jostenbandwebens und vor dem laufenden Spinnrad. Ich selbst freue mich jedesmal über Menschen, die ihr Handwerk so gut beherrschen und mit Spaß dabei sind. Mit verschiedenen Darbietungen, witzigen und lustigen Geschichten, Tanz und viel Gesang haben wir unseren Werkwochenerfolg am Abend gefeiert.

Sonntag ist Abreisetag. Gestern hatte ich beim Morgengruß mitgesungen und es hat mir soviel Freude bereitet. Für heute ist kein Gesang vorgesehen - und doch erklingt ein warmer Flötenton als Morgengruß und holt uns aus den Träumen: "Meine Heimat ist ein Möwenschrei, hoch über Dünen und Meer. Ob s immer wo anders auch schöner sei, es klingt deine tiefste Melodei, mein Deutschland von Osten her." Die Melodie und der Text bleiben für diesen und die nächsten Tage im Sinn.

Nicht nur die Literatur gibt ein Zeugnis über die kulturelle Vielfalt Ostdeutschlands ab: Marianne Kopp im Gespräch mit Uta Lüttich (v. l.).

 
     
     
 
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