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Die Lektüre des Romans „Suite fran-çaise“ ist von Anfang an mit einem merkwürdigen Gefühl verbunden. Einer Zeitreise gleich wird der Leser ins Paris kurz vor dem Einmarsch der Deutschen im Zweiten Weltkrieg katapultiert. Eine Zeitreise deswegen, weil der Roman zur selben Zeit entstand und die Verfasserin daher gar nicht wußte, wie es mit dem Zweiten Weltkrieg weitergeht. Denise Epstein, die Tochter der 1903 geborenen, während der Russischen Revolution mit ihrer Familie von Kiew nach Paris geflüchteten Autorin Irène Némirovsky, hat das handgeschriebene Romanfragment ihrer Mutter in einem alten Koffer entdeckt und erst jetzt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Irène Némirovsky, eine in den 30er Jahren in Frankreich gefeierte Autorin, beschreibt in ihrem nie vollendeten Roman die Flucht mehrerer Familien aus dem von den Deutschen bedrohten Paris.
So flüchtet Madame Péricands mit ihren vier Kindern, ihrem gebrechlichen Schwiegervater und dem Hauspersonal aus der Stadt. Trotz aller Unannehmlichkeiten bewahrt sie stets Haltung, vergißt dann aber doch den kranken, steinreichen Schwiegervater. Der verheiratete Bankdirektor Corbin hingegen kümmert sich lieber um die Sicherstellung seiner Geliebten als um sein Personal, und der berühmte Schriftsteller Gabriel Corte ist entsetzt, daß sich ihm bei Nennung seines Namens nicht mehr alle Türen öffnen. Nur das kleinbürgerliche Ehepaar Mi-chauds scheint in dem ganzen Durcheinander nicht nur sein eigenes Wohl im Auge zu haben, vergißt nicht, sich für Wohltaten zu bedanken und sucht seinen als Soldat verletzten Sohn.
Hat der erste Teil des Buches schon den Eindruck hinterlassen, daß Irène Némirovsky ihre Landsleute nicht wirklich bedauert und ihre negativen Eigenschaften hervorhebt, so verstärkt der zweite Teil des Buches diesen Eindruck. Personen, die der Leser schon beim Durchzug des Pariser Flüchtlingszuges über Land als Nebenfiguren kennengelernt hat, stehen nun im Mittelpunkt. Ängstlich warten die Dorfbewohner auf die ersten deutschen Soldaten, die laut Propaganda Monster sein müssen, und sind überrascht, als sie junge, fröhliche Männer in das Dorf spazieren sehen, die höflich nach Feuer fragen, mit den Franzosen plaudern und sogar ihre Sorgen mitteilen. „Madame, ich fahre in zehn, Montag in acht Tagen. Seit Beginn des Krieges habe ich nur einen kurzen Weihnachtsurlaub gehabt, nicht einmal eine Woche. Ach, Madame, wie sehnlich wir auf diese Urlaube warten.“
Da die deutschen Männer sich sogar gesitteter geben als die männlichen Dorfbewohner, verlieben sich einige Französinnen in die Besatzer, woraufhin es zu einem tragischen Mord eines sich zu unrecht betrogen fühlenden Ehemannes an einem jungen Deutschen kommt. Trotz dieses Zwischenfalls zeigt die Autorin jedoch eine Gesellschaft, die sich relativ gut mit den Deutschen arrangiert. Das ist insoweit interessant, da sie ungetrübt von der späteren Selbstdarstellung der Franzosen das schreibt, was sie erlebt hat.
Wovon Irène Némirovsky jedoch überhaupt nicht schreibt, ist die beginnende Judenverfolgung, der sie als getaufte Jüdin zum Opfer fällt. In einem Nachwort wird der Lebensweg der Autorin geschildert, die 1942 in einem Lazarett in Auschwitz starb. Auch ihr Mann, der sich für seine kranke Frau auswechseln lassen wollte, starb dort: Er wurde gleich nach seiner Ankunft ermordet. Ihre Töchter Elisabeth und Denise wurden von Freunden versteckt und überlebten, doch es wird darauf hingewiesen, daß französische Häscher im Auftrag der Besatzer verbissen Jagd auf die fünf- und 16jährigen Kinder machte. Von heldenhaftem Widerstand keine Spur!
Ein sehr berührender und detailreicher Roman einer bemerkenswerten Autorin. Fritz Hegelmann
Irène Némirovsky: „Suite française“, Knaur, geb., 509 Seiten, 22,90 Euro |
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