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Diese Pest der europäischen Vergangenheit. Was allerdings gestern für die Vertreibung der kosovarischen Albaner galt, gilt heute für die Vertreibung von Serben im gleichen Kosovo. Und es galt vorgestern für die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Welt- krieg. „Vertreibung“, hat der Bundeskanzler an dieser Stelle vor einem Jahr gesagt „läßt sich niemals rechtfertigen. Vertreibung, daran kann es keinen Zweifel geben, ist stets ein Unrecht.“
Das klassische Argument gegen diese These spricht von der „Kausalität von Aktion und Gegenreaktion“, die auf den Kopf gestellt würde. Ich zitiere eine unserer großen überregionalen Zeitungen, die Süddeutsche Zeitung , die noch im vorigen Jahr formulierte: „Doch ist wieder und wieder an Ursache und Wirkung zu erinnern, daran also wer Krieg und Greuel begonnen, wer Widerstand geleistet und wer Rache geübt hat.“ Dies ist die Rechtfertigung der Gegenaggression, sie führt in den ewigen Zirkel gegenseitiger Beschuldigung. Ja, sage ich als Deutsch-Böhme, die Geschichte beginnt nicht 1945 mit der Vertreibung der Sudetendeutschen. Sie beginnt aber auch nicht 1938 mit dem Münchner Abkommen, sie beginnt nicht einmal mit der Gründung eines tschechoslowakischen Nationalstaates, in den die Böhmen deutscher Zunge nach dem Ersten Weltkrieg gezwungen wurden. Wo immer die Aggression zwischen Deutschen und Tschechen begonnen haben mag, wann immer aus nationalem Bewußtsein Nationalismus geworden sein mag - es muß Schluß sein mit der Denkfigur: Die anderen haben angefangen. (...) Das Denkmodell der „gerechten Strafe“ ist korrupt. Früher funktionierte es nach dem Muster: Deutsche kann man, nach den Verbrechen des Hitler-Regimes, ruhig vertreiben. Heute funktioniert es nach dem Muster: Serben kann man, nach den Verbrechen des Milosevic-Regimes, ruhig vertreiben. (...)
Wenn ich ... zur Kenntnis nehmen muß, daß auch noch ein halbes Jahrhundert nach der Vertreibung der Sudetendeutschen unsere „Aussiedlung“ nicht nur als legal, sondern auch als legitim bezeichnet wird, und zwar nicht nur von irgendwelchen tschechischen Rechtsradikalen, sondern in Urteilen des tschechischen Verfassungsgerichts und in Äußerungen von Abgeordneten, dann fühle ich mich herausgefordert, zu sagen: Saaz und Aussig waren nichts anderes als Srebrenica. Edvard Benes hat die Vertreibung des Deutschen langfristig geplant und spätestens 1943, nämlich mit Stalin, international verhandelt. Er kann nicht mehr vor einen internationalen Gerichtshof zitiert werden. Wer die Politik, die er betrieben hat, aber noch heute rechtfertigt, liefert den Völkermördern von heute Argumente. (...)
Ich war und bleibe ein Anhänger der Ostpolitik Bundeskanzler Brandts und ich habe die Forderung vieler meiner Landsleute nach Restitution des sudetendeutschen Eigentums niemals geteilt. Ich war und bin der Auffassung: Eine solche Restitution würde das mühsam wieder aufgebaute Verhältnis zwischen den beiden Völkern nicht aushalten. Und ich bin auch dagegen, die Aufnahme der Tschechischen Republik in die Europäische Union von historisch-politischen Vorbedingungen abhängig zu machen.
Unerträglich aber finde ich es, wenn die Vertreibung heute noch gerechtfertigt wird, wenn sie weggeschoben werden soll als bloßes „Thema für Historiker“, wenn so getan wird, als könne man dicke Striche unter die Vergangenheit ziehen, wenn also sogar Gesten, symbolische Entschädigungen, Schuldbekenntnisse - wie sie Vaclav Havel oder die tschechischen katholischen Bischöfe abgegeben haben - verweigert werden. (...)
Das ist der Grund, warum ich mich für ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin engagiere. Denn das Thema ist weder erledigt noch aufgearbeitet. Es ist auch keineswegs nur ein Thema, das wir mit Tschechen und Polen diskutieren müssen. Es lohnt auch die Diskussion mit Amerikanern, Engländern und Franzosen. Churchill hat im Dezember 1944 im Unterhaus gesagt: „Die nach unserem Ermessen befriedigendste und dauerhafteste Methode ist die Vertrei- bung ...“ (...)
Ein böhmisches Museum in Marktredwitz oder eine niederschlesische Kultureinrichtung in Nordrhein-Westfalen können niemals zum Kristallisationskern einer bundesweiten oder gar europäischen Debatte über Vertrei- bung, Ethnonationalismus und Fremdenhaß werden. Genau diese Debatte aber brauchen wir. (...)
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