|
An Auftritten der Kandidaten und Wahlveranstaltungen bestand kein Mangel. Jeder beschwor den kommenden Aufschwung und sah Licht am Ende des Tunnels. In der ersten Wahl lagen Wjatscheslaw Swetlow und Nikolaj Nikolajew mit 22,3 bzw. 18,1 Prozent vorn. Der bisherige Amtsinhaber Wladimir Lisowin lag mit 17,5 Prozent knapp auf Platz drei. Alle anderen Kandidaten lagen weit abgeschlagen zurück.
Da keiner der Kandidaten über 50 Prozent der Wählerstimmen erreicht hatte, war eine Stichwahl zwischen Swetlow und Nikolajew notwendig geworden.
Der 50jährige Swetlow, Direktor der weit über die Grenzen Tilsits geschätzten Filmfachschule, versprach wirtschaftlichen Führungsstil und eine neue Stadtkultur. Nikolajew (52) ist Chef eines Baukombinats und verwies auf seine langjährigen Erfahrungen bei wirtschaftlichen und kommunalen Problemen. Im zweiten Wahlgang entschieden sich schließlich knapp 50, 97 Prozent für Swetlow.
Die Amtseinführung des neuen Tilsiter Oberbürgermeisters wurde mit bisher nicht dagewesenem Pomp vollzogen. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Repräsentanten der Parteien und gesellschaftlicher Organisationen, Vertreter der Medien hatten sich im Tilsiter Stadttheater versammelt, unter ihnen der Königsberger Vizegouverneur Prudnikow aus Moskau war der Präsidialabgesandte Orlow erschienen, Pater Pantaleon als Vertreter der orthodoxen Kirche und der Konsul von Litauen.
Swetlow leistete in feierlicher Zeremonie den Amtseid und nahm von seinem Vorgänger den Stadtschlüssel als Symbol der Macht in Empfang. Ein festliches Konzert schloß das Ereignis ab.
Inzwischen läßt der neue OB die Beamten den Wechsel spüren: Mehrere Institutionen und Ämter wurden aufgelöst, einige Abteilungen zusammengelegt, die Zahl der Bediensteten von 111 auf 63 zusammengestrichen. Der Schlag gegen die schwerfällige Bürokratie soll nur der Auftakt zu weiteren Umgestaltungen sein. Tilsit soll, so will es der neue Oberbürgermeister, aus seinem Aschenputteldasein heraus.
Dies empfinden auch große Teile der Bevölkerung Tilsits. So konnte man jüngst etwa in einem Aufsatzwettbewerb zum Thema "Meine Stadt" Nachdenkliches lesen: "Wehmut kommt auf, wenn man durch die einst schönen Straßen geht. Sowjetsk ist eine graue Stadt geworden." Oder: "Die Häuser mit ihren einmaligen Fassaden, das Portal der Luisenbrücke und viele andere Bauten aus der Preußenzeit gilt es zu bewahren."
Es sind Gedanken der Schülerin Anna Janschina und des Schülers Andrej Mordwinow. Ähnlich scheint es auch das neue Stadtoberhaupt zu sehen.
Kontakte zu einem internationalen Komitee verfolgen die Absicht, der Luisenbrücke als grenzüberschreitender Verbindung den Status "Brücke des Friedens" zu verleihen, um so Fördermittel für die dringend notwendige Sanierung zu bekommen. Swetlow plant, Tilsit am "Allrussischen Wettbewerb um die vorbildlich gestaltete Stadt" teilnehmen zu lassen. Der neue Oberbürgermeister beabsichtigt, der alten Stadt wenigstens einen Teil ihres alten Glanzes wieder zurückzugeben. Er wird viel zu tun haben.
|
|