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Flöter meint, seine Pflicht getan zu haben und geht nach Haus. Was er erst später erfahren wird: Er war Zeuge eines weltgeschichtlichen Augenblicks geworden. Noch in derselben Nacht brannte der Reichstag ab. Die erst seit einigen Tagen regierenden Nationalsozialisten sollten dies als Vorwand nehmen, nicht nur die Kommunistische Partei zu verbieten, sondern den politischen Pluralismus in Deutschland insgesamt abzuschaffen.
Gefaßt wird kurze Zeit später der holländische Anarchist Marinus van der Lubbe. Lubbe wird zusammen mit dem Bulgaren Georgi Dimitroff und anderen hohen Funktionären der Kommunistischen Internationalen (Komintern), die er nie zuvor gesehen hat, vor dem Reichsgericht angeklagt und später zum Tode verurteilt. Seither ist der Streit darüber nicht abgebrochen, ob er den Reichtag allein angezündet hat oder ob er Mittäter hatte.
Mit ein paar harmlosen Kohleanzündern könne ein einzelner Landstreicher wie der Holländer van der Lubbe unmöglich in so kurzer Zeit ein so riesiges Gebäude in Brand setzen. Er müsse Helfershelfer gehabt haben. Dies behaupteten sowohl die Nationalsozialisten, die eine Anstiftung durch Moskaus Kommunisten nachweisen wollten, als auch die Kommunisten, die davon überzeugt waren, Lubbe sei ein "Werkzeug der Nazis" gewesen. Diese Theorie war bis in die 60er Jahre der Ausgangspunkt fast aller Theorien über die Ursache des Reichstagsbrandes. Das Reichsgericht, das über die Schuld van der Lubbes zu befinden hatte, sah das auch so. Nur: wer diese Helfershelfer waren, darüber gingen die Meinungen freilich auseinander.
Noch bis heute schlagen in diesem historisch eigentlich wenig ergiebigen Streit die Wellen der Gefühle mancherorts hoch. Der Umschlagtext der 1992 von Alexander Bahar neu herausgegebenen Dokumentation des Brandes läßt dies ahnen. Dort heißt es: "Dieses Buch ist eine Waffe für alle, die nicht hinnehmen wollen, daß die Protagonisten des Nationalsozialismus wieder salonfähig und vor allem die wahren Täter zu Opfern hochstilisiert werden
"
Die Behauptung, den Vertretern der These der Alleinschuld van der Lubbes sei es an einer Reinwaschung der Schuld des Nationalsozialismus zu tun, ist so alt wie der Streit selbst. Schon 1959, als der Jurist Fritz Tobias diese Überlegung erstmals fundiert in einer Serie im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" äußerte, waren es vor allem natürlich die Zeitungen des damaligen kommunistischen Ostblocks, die vehement protestierten. Aber auch viele liberale Zeitungen Westeuropas ließen durchblicken, daß sie glaubten, die Geschichtsschreibung sei mit der bisherigen These, daß Göring und die Nationalsozialisten die Brandstifter waren, ganz gut gefahren. Mit den neuen Erkenntnissen fühlte man sich eher unwohl. Bereits 1959 hegte der vormalige Danziger Senatspräsident seine Befürchtungen: Falls die These, die Nationalsozialisten selbst hätten den Brand gelegt, falsch sei, könnten viele Menschen glauben, so seien "auch die anderen angeblichen Greueltaten erlogen und erstunken", so Rauschning. Mußte das nicht auch dazu führen, daß alle anderen Verbrechen verharmlost würden? Rauschning befürchtete gar, es könne sein, daß man durch die Zerstörung der Legende der ursächlichen Beteiligung der Nationalsozialisten am Brand eine neue Legende aufbaue. Und diese "würde nicht weniger verhängnisvoll werden als die seinerzeitige Dolchstoßlegende".
Solche Befürchtungen ventilierte damals auch der Schriftsteller Golo Mann. Er schrieb deshalb am 20. September 1961 Fritz Tobias in einem Brief, man könne nicht ausschließen, daß es wirklich so gewesen sei, wie er behaupte. Dennoch: Die Forschungsergebnisse von Tobias seien ihm, Mann, "volkspädagogisch unwillkommen". Eine Wendung, die seitdem zu trauriger Berühmtheit gelangt ist. Nun schien sich tatsächlich eine Kluft zwischen Volkspädagogik und Wissenschaft aufzutun.
Es war zu bemerken, daß immer noch die alten Fronten aus den 30er Jahren bestanden. Damals hatte der Reichstagsbrandprozeß vor dem Reichsgericht in Leipzig, in dem die Alleinschuld Lubbes bestritten wurde, vor allem durch das unbeherrschte Auftreten Hermann Görings einen höchst ungünstigen Eindruck auf die europäische Öffentlichkeit gemacht. Der damals in Berlin lebende spätere Chef der Komintern, Georgi Dimitroff, konnte hingegen in diesem zunächst per Rundfunk übertragenen Prozeß seine propagandistischen Anliegen äußerst öffentlichkeitswirksam kundtun.
Damals hatte der Chefpropagandist der Komintern, Willi Münzenberg, in London eine Gegenveranstaltung zum Leipziger Prozeß organisiert. An diesem maßgeblich unter kommunistischer Regie inszenierten "Gegenprozeß" nahmen auch wichtige Literaten und Intellektuelle aus der ganzen Welt teil, die selbst keine Kommunisten waren. Von ungeheuer großer Wirkung war das unter Münzenbergs Leitung herausgegebene "Braunbuch", in dem Wahrheit, Mutmaßungen und Fälschungen in einer damals schwer zu entwirrenden Mischung vertreten waren. In ihm wurden die Nationalsozialisten als die wahren Brandstifter beschuldigt. Unter Leitung des Reichstagspräsidenten Hermann Göring habe ein SA-Kommando große Mengen brennbaren Materials durch einen unterirdischen Gang in das Reichstagsgebäude gebracht und die Hauptarbeit geleistet. Marinus van der Lubbe, der auf einer "Liebesliste" des homosexuellen SA-Führers Ernst Röhm gestanden habe, habe, so das "Braunbuch" weiter, lediglich als vorgeschobenes Werkzeug gedient. Die im "Braunbuch" gegebenen politischen Erklärungen des Brandes wurden in der internationalen Öffentlichkeit damals weitgehend als wahr anerkannt. Nach dem Krieg galten auch in Deutschland die Braunbuch-Thesen als offiziell anerkannte und in deutschen Schulen gelehrte historische Wahrheit.
Das änderte sich erst 1959/60 mit der exklusiv im "Spiegel" veröffentlichten Studie von Fritz Tobias, die die Alleintäterschaft Lubbes in nicht weniger als elf umfangreichen Folgen minutiös nachwies. In ihr wurden zahlreiche Fälschungen aus der Münzenberg-Werkstatt nachgewiesen. Schon damals gab es, wie die Äußerungen Rauschnings und Golo Manns zeigen, erhebliche Bedenken, teilweise sogar wüste Schmähungen.
Doch die Historikerzunft war auf das Thema aufmerksam geworden. So beauftragte das "Münchner Institut für Zeitgeschichte" den Historiker Hans Mommsen mit einer genauen Prüfung der Thesen Tobias. Das Ergebnis wurde 1964 in der Publikation des Instituts, den "Vierteljahresheften für Zeitgeschichte", veröffentlicht. Momm-sen kam zu dem Schluß, daß Tobias vollkommen korrekt gearbeitet hatte. Dies wirkte nun endgültig als Provokation.
Im Januar 1968 gelang es dem gebürtigen Kroaten Edouard Calic, ein internationales Komitee zusammenzurufen, das sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Schuld der Nationalsozialisten am Reichstagsbrand nachzuweisen. Dem von ihm gegründeten "Luxemburger Komitee" gehörten unter anderen an: Bundeskanzler Willy Brandt, der luxemburgische Minister Pierre Grégoire und der französische Dichter André Malraux als Ehrenpräsidenten. Ferner als Mitglieder und Mitarbeiter Ernst Benda, Horst Ehmke, Golo Mann, Carlo Schmid, Eugen Kogon, Ernst Fraenkel, Karl Dietrich Bracher und andere. Die Leitung des Forschungsteams übernahm der seit 1950 in West-Berlin, seit 1960 in Bern lehrende Historiker Walter Hofer.
Unter seiner und Calics Leitung erschien 1972 der erste Band einer umfangreichen Dokumentation zum Reichstagsbrand. Viele bei Tobias gelieferte Beweisführungen und Gutachten blieben dabei allerdings unberücksichtigt. So etwa die Ausführungen über die Kaminwirkung des großen Kuppelsaals. Doch lieferte der Erste Band des Luxemburger Komitees nur eine "negative Beweisführung", das heißt, sie versuchte, Tobias zu widerlegen. Eine "positive Beweisführung", Beweise nämlich, daß die Nationalsozialisten selbst den Brand gelegt hatten, konnte sie nicht beibringen. Das sollte ein zweiter Dokumentationsband des Komitees leisten. Dieser erschien endlich im Jahre 1978.
Doch der anfänglich als seltener "Glücksfall" gepriesene Band erwies sich, so der Historiker Uwe Backes, als "Reinfall". Denn die in Band 2 abgedruckten "Dokumente" erwiesen sich als glatte Fälschungen. Dies deckte 1979 der Journalist Karl-Heinz Janßen in der Wochenzeitung "Die Zeit" auf. Eine Untersuchung, die Janßen 1986 mit einer umfangreichen Dokumentation in Zusammenarbeit mit dem Historiker Henning Köhler noch belegen und bekräftigen konnte.
Doch Hofer und sein "Luxemburger Komitee" blieben unbeirrt. Erst nach fast zwei Jahren gab Hofer in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) vom 16. Dezember 1987 eine Stellungnahme zu dem Vorwurf der Dokumentenfälschung ab. Darin verwahrte er sich zwar gegen die Vorwürfe, ohne sie jedoch klar zu widerlegen. Weiterhin stellte er sich vor den der Fälschung bezichtigten Calic und verbürgte sich für die Echtheit der Dokumente
Bereits am 8. Januar 1988 antwortete Eckhard Jesse im Namen einer Historikergruppe und erläuterte anhand von Beispielen die umstrittenen Methoden Hofers und seiner Mitarbeiter. Jesse: "Wer Kopien zur Altersbestimmung einreicht, immunisiert sich weitgehend gegen Widerlegung." Hofer verschweige, so Jesse, auch, daß er "bereits im Frühjahr 1986 im Bundesarchiv ,Dokumente zur Prüfung eingereicht hat." Das Bundesarchiv habe ihm aber die Echtheitsbestätigung verweigert, "weil keine
Originale beigebracht werden konnten". Hofer behauptete damals, diese seien vernichtet worden. Später tauchte nachträglich doch eine Seite "im Original" auf. "Von wem stammt sie?" fragte damals Jesse. Stimmen wurden laut, diese seien nachträglich in einer Fälscherwerkstatt hergestellt worden.
Die Weigerung Hofers, die Originale von unabhängiger Seite überprüfen und einsehen zu lassen, wirft Fragen auf. Man muß kein Spötter sein, wenn man sich wie Sven-Felix Kellerhoff in der "Welt"die Frage stellt, wie wohl die Öffentlichkeit reagiert hätte, wenn damals der "Stern" sich geweigert hätte, die Echtheit der "Hitler Tagebücher" feststellen zu lassen.
Das auch später immer wieder erneuerte Angebot des Bundesarchivs, die Dokumente auf ihre Echtheit überprüfen zu lassen, schlug Hofer stets aus. Erst im Jahre 1990 gab das Bundesarchiv seine Zurückhaltung endgültig auf. Josef Henkes vom Bundesarchiv sprach im Namen eines sechsköpfigen Autorenteams die Ansicht aus, bei den "Dokumenten" handle es sich schlicht um Fälschungen. Auch die Text- und Quellenkritik habe eine solche Fülle von Unstimmigkeiten ergeben, daß ein anderer Schluß nicht möglich sei.
Eine Untersuchung der Zürcher Kantonspolizei, die Hofer bis heute als Sieg und Bestätigung der Echtheit feiert, sei methodisch unbefriedigend gewesen. Da seien, so Henke, möglicherweise Fälschungen mit Fälschungen verglichen worden. Trotzdem feierte Hofer dieses Gutachten als Sieg und ließ 1992 im links-atheistischen Ahriman-Verlag eine Neuauflage der Dokumentation erstellen, deren Herausgeber Alexander Bahar auch in der linken "taz" und der linksradikalen Tageszeitung "Junge Welt" seine Thesen vertritt. Dabei geht er nicht eben zimperlich mit seinen Gegnern um: Wer sich gegen seine "Nazi-Täter-These" ausspricht, sei mindestens ein Verharmloser des Nationalsozialismus. Der Stil der Auseinandersetzung erinnert an den Historikerstreit unseligen Angedenkens.
So geht es letztendlich wieder einmal nicht um die historische Frage "Wer hat den Brand im Reichstag gelegt?", sondern um die Frage der Vorherrschaft linker Geschichtsdeutung in Deutschland.
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