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In einem Monat hat Frankreich einen neuen Präsidenten - oder ist es der alte? Nach den Umfragen ist alles offen. Der Neue wäre der Sozialist Lionel Jospin, der alte oder amtierende der Neogaullist Jacques Chirac. Bis vor kurzem lag Jospin vorn, seit Ende März dreht sich der Wind. Die Kampagne bringt nicht nur Skandale der Bürgerlichen an den Tag, auch auf Jospins Vergangenheit fallen Blitzlichter. Sie zeigen einen ganz anderen Politiker. Jospin war Trotzkist und das bis in die späten achtziger Jahre. Im letzten Jahr leugnete er und mußte es schließlich vor dem Parlament zugeben. Kurz darauf unterlief ihm ein Lapsus, als er nach dem Sieg der Labour-Partei in Großbritannien meinte, "die Trotzkisten, äh, die Sozialisten" hätten immer den öffentlichen Dienst verteidigt.
Nach Freud sind solche Versprecher das unbewußte Auftauchen des Verdrängten. Ist Jospin Trotzkist geblieben? Man tut ihm vielleicht unrecht mit solchen Behauptungen. Sicher ist, daß der Kandidat sein gesamtes politisches Leben links von der Mitte verbracht hat, in ideologischen und manchmal auch revolutionären Kreisen. Eine Wandlung des ideologischen Saulus zum bürgerlichen Paulus ist unwahrscheinlich. Was die Franzosen an dieser Geschichte interessiert ist die Frage: Wie hält es Jospin mit der Sicherheit und der Kriminalität? Und gibt es noch einen anderen Jospin, einen, der um jeden Preis die Macht für sich will, der über das normale Maß des Egoismus eines Politikers hinausgeht? Der Zweifel der Franzosen berührt weniger die persönlichen Skandale, die es in jedem politischen Lager gibt, sondern zielt auf die Aufrichtigkeit mit gesellschaftlicher Relevanz, wie sie etwa in den Worten Lenins zum Ausdruck kam: "Die Wahrheit zu sagen ist eine kleinbürgerliche Gewohnheit". Wer so denkt, ist zu allem fähig. Dieses Gefühl greift Platz und deshalb dreht sich der Wind.
Das Gefühl wird bestärkt durch Jospins Schläge unter die Gürtellinie, indem er das Alter des amtierenden Präsidenten als einen Ausweis von Unfähigkeit anführte. Das offenbart einen Vernichtungswillen, der vielen Franzosen zu weit geht. Außerdem hat Frankreich mehr alte als junge Wähler, Jospins Äußerung war also auch wahltaktisch eine Entgleisung. Jospin wird nervös, die Franzosen werden nachdenklich.
Der Wind dreht sich auch aus sachlichen Gründen. Die Arbeitslosigkeit steigt, die 35-Stunden-Woche führt im Mittelstand zu manchen Pleiten, das Rentensystem wankt und vor allem die Frage der öffentlichen Sicherheit bedrückt die Franzosen. Keine Nachrichtensendung ohne neue Überfälle und Gewaltaktionen. Die Frage rückt in den Mittelpunkt der Programme und da hatte Chirac die Nase vorn. Er hat als erster darauf hingewiesen und konkrete Maßnahmen in Aussicht gestellt. Mit der Sicherheitsfrage verbunden sind auch Erziehungsfragen, die Jugendkriminalität hat in Frankreich ungeahnte Ausmaße angenommen. Betreuung ist eben nicht Erziehung, auch wenn sie rund um die Uhr erfolgt, damit die Mütter möglichst lange und zahlreich in Betrieben und Büros arbeiten können. Gesellschaftlich zahlt sich diese Politik nicht aus.
Diese und andere Fragen werfen ihre Schatten über die Präsidentenwahlen hinaus und werden auch die Parlamentswahlen im Frühsommer bestimmen. Es sind zum Teil auch unsere Fragen und deshalb wird Frankreich eine Wende für Deutschland und Europa markieren - in die eine oder andere Richtung. Maria Klausner |
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