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Ein scharfer Wind fegte am 1. März 1932 um die Häuser des kleinen Ortes Hopewell im US-Bundesstaat New Jersey. Da machte man besser die Türen zu. Wie an jedem Abend ging das Kindermädchen Betty Gow gegen 22 Uhr noch einmal in das Zimmer im zweiten Stock, in dem das Baby schlief. Einmal noch nach dem Rechten sehen, bevor sie sich selbst zu Bett begab. Charles Augustus Lindbergh III. war ein prächtiges Kerlchen, 20 Monate alt und die ganze Freude seiner Eltern, der Luftfahrtpioniere Anne und Charles Lindbergh. Doch Betty Gow fand das Bettchen des Kindes leer. Auf dem Sims des offenen Fensters lag eine Botschaft: "Halten Sie 50000 Dollar bereit! (...) Das Kind ist in Sicherheit." An der Hauswand lehnte noch die Leiter, mit der der Kidnapper eingestiegen war.
Trotz eines Großeinsatzes der Polizei liefen die Ermittlungen monatelang ins Leere. Keine Botschaft des Entführers, kein Lebenszeichen des Babys, keine Spur, nicht ein Ansatz. Die Nation litt und bangte mit den Eltern. Denn Charles Lindbergh war der absolute Held der Nation und sein Sohn Charles Augustus Lindberg III. war lange zuvor schon zum öffentlichen Baby geworden. Gleich nach dessen Geburt hatte die Presse so lange über eine angebliche Behinderung des Babys gefaselt, bis der prominente Vater schließlich genervt ein Foto seines Sohnes freigab. Andere Chronisten freilich stellen fest, Lindbergh habe keinerlei Skrupel gehabt, aus dem Baby bereits eine "öffentliche Person" zu machen. Das Leben der Lindberghs beschäftigte die Presse schon lange, und möglicherweise war es gerade diese öffentliche Neugier, die den Kidnapper später seine Tat planen ließ.
Charles Lindbergh war der erste Superstar des 20. Jahrhunderts. Er hatte die Herzen erobert, als er 1927 als erster Mensch allein über den Atlantik von New York nach Paris flog. Damals war aus dem "fliegenden Narren", wie Kollegen den Postflieger Lindbergh verspotteten, "Lucky Lindy", geworden. Nach der Rückkehr von seinem Rekordflug erhielt er 3,5 Millionen Briefe, 100000 Telegramme und 15000 Päckchen. Schon einen Tag nach der Landung veröffentlichte die "New York Times" ein Tagebuch Lindberghs über seinen Flug, das er allerdings niemals geschrieben hatte. Lindbergh wurde zum meistfotografierten Menschen der 30er Jahre. Mit seiner Frau Anne Morrow führte er eine Ehe unter den Augen der Öffentlichkeit. Der Fliegerheld und die Bestseller-Autorin, sie waren das Traumpaar schlechthin. Amerika liebte sie, und sie genossen es, auf diese Weise geliebt zu werden.
Die Entführung fünf Jahre nach dem Rekordflug war ein Schock für die ganze Nation. Sie litt mit den Lindberghs. Und sie fahndete mit. Mit einer Annonce in der Zeitung bot der ehemalige Lehrer John Francis Condon (72) den Entführern an, diskret Kontakt aufzunehmen. Und die Kidnapper gingen darauf ein. Sie gaben Condon schriftliche Anweisungen für ein Treffen auf einem Friedhof. Zwischen den Grabsteinen tauschten sie das geforderte Lösegeld von 50000 Dollar gegen einen Zettel. Darauf stand: "Der Junge befindet sich auf dem Boot Nelly." Doch die Hoffnungen zerplatzen bald. Es gab kein Boot namens Nelly.
73 Tage nach der Entführung fand ein Lastwagenfahrer am 12. Mai 1932 das Baby. Der Leichnam lag in einem Wäldchen in unmittelbarer Nähe des Lindbergh-Hauses. Das Baby war bereits kurz nach der Entführung ermordet worden.
Die Polizei hatte die Banknoten des Lösegeldes präpariert. Doch es sollten zweieinhalb Jahre nach der Entführung vergehen, ehe dieses Geld die Polizei auf eine heiße Spur führte. Am 18. September 1934 bezahlte ein Mann aus der Bronx an der Tankstelle mit einem der registrierten Zehn-Dollar-Scheine. Der Tankwart verständigte die Polizei. Nun ging alles ziemlich rasch. Bald schon präsentierte die Polizei einen Verdächtigen: Bruno Richard Hauptmann, geboren am 26. November 1899, ein deutscher Tischler aus Kamenz in Sachsen. Er war weiß Gott kein unbeschriebenes Blatt.
In Deutschland hatte Hauptmann vier Jahre wegen dreimaligen Wohnungseinbruchs und des Diebstahls von Lebensmittelkarten im Gefängnis Bautzen gesessen. Nach seiner Entlassung versuchte er, gestohlene Ledergürtel zu verkaufen, wurde erwischt und wieder festgesetzt. Hauptmann floh in Gefangenenkleidung aus der Untersuchungshaft und versuchte, sich nach Amerika durchzuschlagen. Zweimal wurde er als Illegaler zurückgeschickt. Beim dritten Anlauf reiste er mit einem gefälschten Paß in die USA ein.
Vergraben in der Garage dieses Mannes fand die Polizei einen Schuhkarton mit knapp 14000 Dollar aus dem Lösegeld. An der Rückwand eines Schrankes wurden Telefonnummer und Name des Vermittlers Condon entdeckt. Der Fall schien klar und eindeutig. Zumal John Condon sicher war, Hauptmann als den Mann vom Friedhof identifizieren zu können. Zudem wurde nachgewiesen, daß die bei der Entführung benutzte Leiter in Hauptmanns Tischlerwerkstatt angefertigt worden war.
Ein Graphologe erklärte, eindeutig seien alle eingegangenen 15 Lösegeldforderungen von Hauptmann geschrieben worden.
Die Kette der Indizien war erdrückend. Dennoch beteuerte Hauptmann immer wieder, unschuldig zu sein, das Geld lediglich von seinem Bekannten Isidor Fisch zur Aufbewahrung erhalten zu haben.
Elf Stunden berieten die Geschworenen am 13. Februar 1935 in Flemington, New Jersey. Dann ging der Lindbergh-Prozess, der "Prozeß des Jahrhunderts" in den späten Abendstunden mit einem Schuldspruch zu Ende: Bruno Richard Hauptmann wurde aufgrund von Indizien als Mörder des Lindbergh-Babys zum Tode verurteilt.
Die Geschworenen hätten kaum anders entscheiden können. Zu belastend waren die Indizien - und die Stimmung unerträglich aufgeheizt. "Kill the German" hatten Zigtausende Schaulustige skandiert, die in den fünf Prozeßwochen das Gericht belagerten.
Wen scherte es da, daß der nur mangelhaft Englisch sprechende Hauptmann ohne Dolmetscher blieb, Entlastungsmaterial verschwand, Zeugen nicht auftauchten, der Gefangene von der Polizei geschlagen wurde. Hauptmanns Verteidiger, Edward Reilly, stand auf der Gehaltsliste des Zeitungskönigs William Hearst, der dafür Exklusivinformationen von dem Advokaten erhielt. Und nach dem geheimnisvollen Isidor Fisch wurde niemals gefahndet, obgleich dieser Mann, wie später bekannt wurde, sich nach Europa abgesetzt und die Überfahrt mit Goldzertifikat-Noten bezahlt hatte, die aus dem Lösegeld stammten. Und schließlich spielte es auch keine Rolle, daß ein Reporter noch vor dem Schuldspruch gestehen mußte, Telefonnummer und Namen des Vermittlers Condon auf die Rückseite des Schrankes gekritzelt zu haben. Man hatte einen Schuldigen, und von dem wollte man nicht ablassen. Zu perfekt waren die Rollen des tragischen Helden und des Schurken besetzt. So gab die Aussage von Charles Lindbergh den Ausschlag, der angab, er erkenne in der Stimme des Angeklagten die des Anrufers wieder, mit dem er drei Jahre zuvor gesprochen habe.
Bis zum Tag seiner Hinrichtung beteuerte Bruno Richard Hauptmann seine Unschuld.
Die Hinrichtung wurde für den 17. Januar 1936 angesetzt, dann aber dreimal aufgeschoben. Am 3. April 1936, 20.45 Uhr, wurde Bruno Richard Hauptmann im Staatsgefängnis in Trenton, New Jersey durch den Elektrischen Stuhl hingerichtet. Der Tod wurde um 20.47 Uhr festgestellt. Am Vorabend hatte Hauptmann den Behörden einen Brief überbringen lassen: "Sie wissen, daß man nicht die Wahrheit gesagt hat ... Gott wird über mich und Sie richten!"
Nachdem der Staat New Jersey in den 80er Jahren mehr als 100000 Prozeßakten freigegeben hat, sind renommierte Rechtsexperten überzeugt: Der "Prozeß des Jahrhunderts" endete mit einem Justizirrtum.
"Lindys Säugling gefunden - getötet": Die Entführung und Ermordung des Sohnes von Flugpionier Charles Lindbergh (rechts) bewegte die US-amerikanische Öffentlichkeit so sehr, daß die "Daily News" am 13. Mai 1932 mi |
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