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Wer dicht hinter dem Polen- markt in Küstrin nach rechts abbiegt, steht ziemlich unvermittelt in der Altstadt. Das einstige Zentrum der ostbrandenburgischen Stadt am Zusammenfluß von Oder und Warthe ist noch immer eine Ödnis. Die Zerstörung durch den Krieg ist hier perfekt.
Über das Kopfsteinpflaster alter Straßen, die erst seit 1995 wieder freigelegt worden sind, schreitet der Besucher durch raschelndes herbstliches Laub; längs der Straßenzeile sind Fundamente von Gebäuden zu erkennen, ab und an Treppenstufen, die einst zu einer Haustür führten. Darüber liegen Berge von Schutt.
Hier erlebt man quälend eindrucksvoll das "märkische Pompeji". Nur ist das Ruinenfeld an der Oder toter als die Ruinenstadt am Vesuv.
Der schreckliche Weltkrieg hat in Europa unendlich viel zerstört. Die Küstriner Altstadt traf es total. Ihr Anblick übersteigt alle Vorstellungskraft und löst einen Schock aus. Selbst das gespenstische Zentrum der ostdeutschen Metropole Königsberg bietet mehr historische Bausubstanz.
Nach alten Stadtplänen geht der Besucher durch die Kommandanten straße, die Wallstraße. Er kommt zum zerstörten Schloß, direkt an der Oder gelegen. Davor ist auf der früheren Schloßfreiheit ein Sockel stehengeblieben, auf dem einst Markgraf Hans von Küstrin stand, und im Hof ragt der steinerne Sockel auf, der einst den "Großen Kürfürsten" Friedrich-Wilhelm trug. Kaiser Wilhelm II. hatte die Denkmäler am 24. Oktober 1903 höchstselbst enthüllt und sie der Stadt geschenkt.
Man steht an der Ecke, an der Leutnant Hans-Hermann von Katte enthauptet wurde - unter den Augen seines Freundes Friedrich, des Kronprinzen und späteren Königs Friedrich d. Gr., der hier von 1730-32 in Festungshaft saß. Steine vom Erker dieses Schauplatzes preußischer Geschichte sind in dem wiederaufgebauten Warschauer Königsschloß vermauert worden. Eine merkwürdige Verquickung preußischer und polnischer Geschichte.
Der Kattewall, früher ein Promenadenweg an der ruhig dahinfließenden Oder, ist noch begehbar. Irgendwann lugt Gemäuer hinter den groß gewordenen Bäumen hervor: die Reste des "Berliner Tores", einst einer der Eingänge in die Festung Küstrin, durch die man nicht nur zu Fuß, sondern auch mit dem Auto und der Straßenbahn fahren konnte.
Von den mächtigen Kasematten der stolzen Festung sind Reste vorhanden: die Bastionen "König", "Brandenburg" und "Philipp". Deren dicke Gemäuer hat bisher niemand zu sprengen vermocht. Sie blieben auch, nachdem Küstrin am 31. März 1945 nach 59tägiger Belagerung kapitulieren mußte und die 1232 gegründete Stadt zu bestehen aufhörte.
Vom einstigen Stolz des jetzigen Grenzortes künden nur noch alte Ansichten wie jene, die der große Kupferstecher Mathias Merian um 1650 erstellte und die heimatbewußte Märker als Stiche sorgsam zu Hause verwahren. Doch selbst die Flucht aus der Geschichte nahm zeitweise erschreckende Formen an. So mußte das diesseits der Oder gelegene Küstrin-Kietz auf massiven Druck der SED im Jahre 1954 umbenannt werden. Und zwar mit der absurden Begründung, "Küstrin" sei ein Begriff des Revanchismus.
Ein halbes Jahr lang hieß es "Friedensfelde", dann nur Kietz. Am ersten Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung, am 3. Oktober 1991, kam es zur feierlichen Rückbenennung, bei der auch der polnische Bürgermeister der Mutterstadt dabei war.
Doch wen interessiert das Schicksal Küstrins im geschrumpften Deutschland noch? - Allenfalls die Minderheit derer, die sich eingehend mit der ganzen deutschen Geschichte beschäftigen, also einschließlich des deutschen Ostens und nicht begrenzt auf das 20. Jahrhundert.
Vor Ort gibt es nicht einmal Schilder, die anzeigen, wie die Straßen einst hießen und wo genau das Schloß stand. Keine Schautafel verdeutlicht den 17 000 Bewohnern von "Kostrzyn" (vor dem Krieg waren es 23 800) und den wenigen Besuchern, wie die Stadt einst aussah. Zwar haben nach Angaben der Zeitung Die Welt vom 28. November kürzlich zwei polnische Investoren leerstehende Flächen der früheren Altstadt aufgekauft, um sie wieder zu bebauen. Archäologen durchsuchen das Gebiet vorsichtshalber bereits emsig nach bewahrenswerten Zeugnissen.
Jedoch geht es bei den Plänen der beiden reich gewordenen Betreiber einer Wechselstube nicht um eine zumindest teilweise Wiedererrichtung des alten Küstrins, sondern, wie Ryszard Skalba vom Stadtentwicklungsamt hervorhebt, "um eine Neubebauung (...) unter Beibehaltung der bestehenden Straßenzüge". Dabei sollen unter anderem ein Handelszentrum und ein Hotel entstehen. Ob für beides genug Nachfrage besteht, erscheint allerdings fraglich angesichts des in jeder Hinsicht traurigen Zustands der Kommune.
Die heutigen polnischen Stadtväter sind nicht zu beneiden. Mit ersten zarten Versuchen der Anknüpfung an das frühere Ortsbild haben sie in den 90er Jahren nur schlechte Erfahrungen machen müssen. Immer wieder hielten sie vergeblich nach möglichen Geldgebern für eine architektonische Renaissance Ausschau. Dann glaubten sie sich endlich am Ziel: Eine Stettiner Baugenossenschaft begann 1998/99 damit, mehrere Häuser im alten Stil zu errichten. Doch die Genossenschaft ging pleite und ihre Gebäude stehen nun in Gestalt häßlicher Rohbauten oder bereits kunterbunt verputzt als neue Ruinen neben den alten Trümmern.
Tröstlich ist, daß sich ein Verein für die Geschichte Küstrins mit einigem Erfolg darum bemüht, die an der früheren "Reichsstraße 1" zwischen Aachen und Königsberg gelegene Stadt in ihrer historischen Substanz im Bewußtsein möglichst vieler Menschen zu verankern. Jährlich veranstaltet dieser Verein Küstriner Festungstage, bei denen die völlig vernichteten Wohnviertel, das zerstörte Schloß und vor allem die Forts, Lünetten und Zwischenfelderbauten in Augenschein genommen werden.
Diese Spurenlese, die Klaus Kilian und Sohn Sven von Frankfurt/Oder aus in Ostbrandenburg anbieten, verdient Respekt. Ihre sachkundige Führung ist ein Gewinn. Wer sie mitgemacht hat, verläßt tief in Gedanken versunken das "märkische Pompeji".
Den Kahlschlag an Architektur, Geschichte und Humanität wird er nicht mehr vergessen können und wohl auch nicht den Wunsch, daß wenigstens das Küstriner Schloß wiedererstehen mög |
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