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Wir hören gerne Wunderdinge

 
     
 
Urplötzlich war die Nacht stockdunkel geworden. Eine dicke Wolke hatte sich über den Vollmond geschoben, so daß man die Hand nicht vor Augen erkennen konnte. Der alte Mann mußte ziemlich schnell um die Ecke gebogen sein, denn er stieß mit einer Heftigkeit gegen meine Seite, die man seinem zarten Körper gar nicht zugetraut hätte. Er brummelte eine vage Entschuldigung und wollte weitergehen. Da stahl sich der Mond wieder hinter der Wolke hervor und ich konnte den Alten genauer betrachten. Er war klein von Wuchs, ging etwas gebeugt und hielt einen Stock in der Hand. Ein langer schwarzer Mantel schützte ihn vor der Kälte an diesem Abend im Februar. Er trug einen Dreispitz auf dem Kopf, und ein dünner weißer Zopf lag auf seinem leicht gewölbten Rücken. Er drehte sich noch einmal kurz um, als wollte er etwas sagen. Aber das war doch ...!

"Entschuldigung, mein Herr. Sie sind doch Professor K...!" - "Aber ja, bleibt man selbst in dieser Nacht nicht unerkannt", brummte er und wollte weitergehen. "Entschuldigung, Herr Professor, gut Sie endlich einmal persönlich zu treffen. Man liest ja soviel über Sie in diesen Tagen ..." - "Nun ja, meine Dame, das ist es ja auch, was mich so sehr erbost. Man liest so viel Privates über mich, wie ich gelebt habe, was für ein Mensch ich war. Was wissen die denn schon! Den großen Weisen aus Königsberg nennen sie mich. Daß große Leute nur in der Ferne schimmern, daß ein Fürst vor seinem Kammerdiener viel verliert, kommt daher, weil kein Mensch groß ist. Überhaupt: Die Gesellschaft macht, daß man sich nur vergleichungsweise schätzt. Sind andere nicht besser als ich, so bin ich gut, sind alle schlechter, so bin ich vollkommen."

Der Alte runzelte die Stirn: "Es gibt in den Feuilletons der Zeitungen derzeit kein anderes Thema. Viel Theater um meine Person; Vorträge, Seminare, Festveranstalt
ungen, ja hochdotierte Preise werden in meinem Namen verliehen, Bücher erscheinen, und sogar die neumodischen Dinger, CDs nennt man sie ja wohl. Erbarmung, möchte ich ausrufen, wie es meine Landsleute noch heute tun, wenn sie etwas erregt." - "Aber Herr Professor, es ist doch nur gut gemeint und außerdem ist es doch schön, daß beständig Ihrer gedacht wird, schließlich sind Sie schon 200 Jahre tot." - "Beständig, beständig", brummte der Alte, "es ist nichts beständiger als die Unbeständigkeit. Warten Sie mal ein paar Wochen, dann redet keiner mehr über mich, ausgenommen vielleicht ein paar Wissenschaftler."

"Nun ja, Sie müssen zugeben, es ist für einen einfachen Menschen nicht leicht, Ihre Werke heute zu verstehen." - "Ja, zugegeben. Ich, der ich aus der Schwäche meiner Einsicht kein Geheimnis mache, nach welcher ich gemeiniglich das am wenigsten begreife, was alle Menschen leicht zu verstehen glauben ... Vielleicht aber liegt es daran, daß der den Schul-unterweisungen entlassene Jüngling gewohnt war zu lernen. Nunmehr denkt er, er werde Philosophie lernen, welches aber unmöglich ist, denn er soll jetzt philosophieren lernen."

"Sie, Herr Professor, werden gern ein Weltweiser genannt, Sie haben die Menschen aufgefordert, selbst zu denken, und zwar a priori. Haben Sie damit alle Probleme gelöst?" - "Alle Aufgaben auflösen und alle Fragen beantworten zu wollen, würde eine unverschämte Großsprecherei und ein so ausschweifender Eigendünkel sein, daß man dadurch sich sofort um alles Zutrauen bringen müßte."

"Aber die Menschen glauben noch heute an Sie. In aller Welt kennt man ihre Texte, sogar in China ..."

"China, das ist doch da, wo die Vögel massenweise vom Himmel fallen. Ein seltsames Land. Ich habe meine Heimat nie verlassen. Bin immer in Königsberg geblieben. Nun ja, was sagten Sie eben, meine Dame? Die Menschen kennen meine Texte? Papperlapapp. Sie kennen vielleicht meine Forderung: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Aber handeln sie danach?" Er schüttelte den Kopf. "Viele schmücken sich dann mit einem anderen Zitat von mir, es soll ja sogar in einer Bronzetafel hier am Schloß verewigt worden sein ..."

"Ja, gewiß, Herr Professor, aber das Schloß ..." - "Ich weiß, meine Dame, das Königsberg meiner Zeit gibt es schon lange nicht mehr. Aber die Menschen, selbst die, die jetzt hier am Pregel leben, kennen zumindest meinen Spruch noch. Sie wissen doch: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir."

"Ja, Herr Professor, das kennen heute noch viele Menschen, aber was Sie mit diesem Ausspruch meinten, ist vielen nicht bewußt." Der alte Mann sah mich prüfend an und erklärte mit seiner brüchigen Greisenstimme: "Beide darf ich nicht in Dunkelheiten verhüllt oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz."

"Danke, nun ist es auch mir klarer ..." - "Selbst denken ist gut", bestätigte der Alte, "aber selbst lernen nicht. Ein mündlicher Vortrag, wenn er auch nicht ganz ausgearbeitet ist, hat sehr viel Instruierendes. Man hört nicht etwas vollkommen Ausgearbeitetes und Ausgedachtes, sondern man sieht die natürliche Art, wie man denkt, und das ist viel nützlicher. Wenn ich einen höre, so bemerke ich eher etwas, entweder Falsches oder Wahres. Beim Hören denkt man auch immer mehr als beim Lesen. Beim mündlichen Vortrag hat man mehr Anschauung. Das Lesen ist auch nicht so natürlich als das Hören."

Seine Stimme zitterte, so als wäre er erschöpft von seinen Ausführungen. Er zog die Schultern ein wenig höher, um sich vor dem kalten Ostwind zu schützen. "Wissen Sie, meine Dame", sagte er, neigte seinen Kopf zur Seite und blickte mich direkt an, "es ist immer etwas Mühsames beim Gebrauch der Vernunft - man muß Scharfsinnigkeit gebrauchen, das Spiel des Witzes dabei unterscheiden. Daher sieht man gerne Wunder, das heißt solche Dinge, die nicht durch unsere Vernunft zu begreifen sind. Sie geben der Vernunft Ferien. Wir hören gerne Wunderdinge, dergleichen Erzählungen sind angenehm, weil wir dadurch von den Beschwerungen der Vernunft losgesprochen werden."

Es schien, als ob er mir zuzwinkerte. Doch es war nicht genau auszumachen, da der Mond sich schon wieder hinter einer Wolke verbergen wollte. Es wurde erneut stock-dunkel. Und wie durch eine geschlossene Tür hörte ich die Stimme des alten Mannes, der sich immer weiter zu entfernen schien: "Es ist niemals zu spät, vernünftig und weise zu werden; es ist aber schwerer, wenn die Einsicht spät kommt."

Als die Wolke vorübergezogen war und der Vollmond seinen silbrigen Glanz über den Gehweg streute, war der alte Mann verschwunden. Und von fern hörte man das Brausen des Autoverkehrs auf den großen Straßen.

Immanuel Kant: Der hochgeachtete Königsberger Philosoph hatte am 12. Februar seinen 200. Todestag Lithographie: Wolff
 
     
     
 
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