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Auch heute schleppt sich der Tag wie endlos dahin. So, wie sich die anderen auch dahingeschleppt haben. Die Füße der alten Frau tragen den kraftlos gewordenen Körper meist nur noch von einer Stubenecke in die andere. Manchmal schlurfen die Füße auch noch den langen, farblosen Gang hinunter. Bis hin an das Fenster, von dem aus man die Parkanlagen sehen kann.
Die entgegengesetzte Richtung aber meiden die Füße. Dort blickt man auf die Hauptstraße hinab. Dort unten hastet das Leben mit beängstigender Gier vorüber. Davor erschrickt die alte Frau. Sie erschrickt davor fast noch schlimmer als vor der dummen Gleichgültigkeit vieler ihrer Mitbewohner.
Plötzlich füllt sich das Haus mit wisperndem Geraune.
"Die neue Ärztin ist angekommen", flüstern die Münder.
"Ist sie noch jung, die neue Ärztin?" Abwertendes Händeschlagen folgt auf der Stelle. "Grad von der Schulbank scheint sie gekommen zu sein." - "Da sehr ihr!" empören sich andere, "für uns Alten scheut man Kosten. - Für uns ist das Billigste gut genug!"
Die Stimmen verstummen wie abgeschnitten. Die neue Ärztin kommt den langen Gang herauf. Als sie näher getreten ist, läßt sich ein viereckiges, angeheftetes Schildchen erkennen. Auf der linken Brustseite der neuen Ärztin ist es angeheftet. Dr. Susanne Wittfeld steht auf dem viereckigen Schildchen geschrieben. "Susanne heißt sie", flüstert jemand den anderen zu. "Wieeee ...?" - "Susanne ...!" - "Hmmm, schöner Name!" nickt der Weißhaarige.
Dr. Susanne Wittfeld wirkt irgendwie distinguiert. Aber das täuscht. In Wirklichkeit rast ihr das Herz bis zum Halse. Ihre Zurückhaltung ist nichts anderes als augenblickliche Unsicherheit. Dennoch lächelt Frau Doktor. Wie weiße Perlen schimmern ihre Zähne, als sie den Mund beim Lächeln leicht öffnet.
"Hübsch sieht sie aus, die neue Frau Doktor."- "Mir guckten damals auch alle Männer nach", verzieht sich ein bissiger Mund. "Man soll s nicht glauben ...", übertrumpft jemand anderes die Bissigkeit.
Frau Dr. Susanne Wittfeld blickt aus großen, blauen Augen auf all die Bissigkeiten hinab, und diese verstummen auf der Stelle. Von dem Fenster, aus dem man die Parkanlagen betrachten kann, schleppen sich nun Schritte heran.
Die alte Frau lächelt beim Näherkommen. Sie lächelt in gleicher, herzlicher Art, in der die neue Ärztin ihr entgegenlächelt.
"Ich habe schon eine Zeitlang beobachtet, mit welch schmerzlicher Sehnsucht Sie auf die Parkanlagen schauen", sagt die Ärztin.
"Ach Gott, Frau Doktor, früher verbrachte ich so manche Stunde dort draußen. - Aber nun wollen die Beine nicht mehr ..."
Wenige Tage später kann die neue Ärztin ihr Können unter Beweis stellen. Die alte Frau mit den schleppenden Schritten wird kränker und kränker. Nicht nur die Beine machen ihr jetzt zu schaffen, sie erhebt sich nun kaum noch aus ihrem Bett, starrt statt dessen mit leeren Augen zur Zimmerdecke hinauf. Essen will sie gar nichts mehr. Nur ab und an nippt sie von dem bereitgestellten Tee.
Am nächsten Abend tritt die neue Ärztin zu ihr in das Zimmer. Sie gibt sich nun schon fast unbefangen, die neue Frau Doktor. In der rechten Hand hält sie eine Aktenmappe, schaut nur kurz einmal hinein. Im gleichen Moment sagt sie aber auch: "So, jetzt kenne ich endlich Ihren Namen: Frau Margarethe Schreiner, nicht?" Die Angesprochene nickt apathisch. Davon läßt sich Frau Doktor aber nicht beirren. Sie fühlt den Puls, horcht an dem kraftlosen Körper und schüttelt danach fast ungläubig ihren Kopf. Schließlich setzt sie sich an das Bett und nimmt sich viel, viel Zeit ...
"Ich bin gerne Ärztin geworden!" beginnt sie das Gespräch. "Nach dem Studium hatte ich die Wahl: entweder Klinikum oder hier bei Ihnen. Ich habe mich für das letztere entschieden. Es fasziniert mich ungeheuer, in alte, wissende Gesichter zu blicken. In Gesichter, in denen das Leben bei jedem einzelnen ein anderes Zeichen geschlagen hat. Für all die betagten Menschen, die Freude erlebt und Leid erlitten, geliebt und gehaßt haben, dafür habe ich mich mit meinem ärztlichen Wissen entschieden ...!"
Die alte Frau scheint ihre Apathie verloren zu haben. Verstohlen blickt sie zu der Ärztin hinüber. Diese aber spricht weiter: "Frau Schreiner, körperlich sind Sie fast ohne wesentlichen Befund. Aber ... - Die Kollegen von der psychologischen Fakultät haben da eine treffende Begriffsdefinition geprägt: Grübelzwang heißt es! - Und nun fürchte ich, Frau Schreiner ...!" Die alte Frau blickt jetzt nicht nur mit Interesse, sie blickt nun auch hellwach der neuen Ärztin ins Gesicht, und im nächsten Augenblick löst sich ein Stein von ihrer Seele.
Sie beginnt zu reden: "Die Psychologen haben wirklich ein treffendes Wort gefunden, Frau Doktor. - Es ist tatsächlich wie ein Zwang immer daran zu denken ..."
Einige Zeit schweigt die alte Frau, dann fragt sie: "Gibt es eigentlich dafür eine wissenschaftliche Erklärung, wenn einen Menschen die Ahnung überkommt? - Wenn jemand spürt, daß im nächsten Augenblick etwas passieren muß, und wenn man dann gar nicht sonderlich erstaunt ist, wenn der nächste Augenblick diese Ahnung bestätigt. Etwas, das man gewittert hat, so wie Tiere das Feuer. Selbst wenn es meilenweit entfernt ist ...?"
Dr. Susanne Wittfeld versucht eine Antwort zu geben. Lächelt aber dazu, als sie sagt: "Natürlich läßt sich so etwas kaum wissenschaftlich begründen. Aber was Menschen sich nicht erklären können, dem spendieren sie wenigstens einen lateinischen Namen. Dann hört es sich wichtig an - Okkultismus zum Beispiel", lächelt sie ironisch.
Die alte Frau kann ihre Erregung kaum noch verbergen, als sie nun in abgehackten Sätzen weiterspricht: "Bei meinem verstorbenen Mann, dem Herbert, da hatte ich eine schlimme Ahnung. Aber leider kam diese Ahnung zu spät: ‚Was sitzt du den ganzen Tag auf dem Sofa? habe ich eines Tages zu ihm gesagt, ‚laß uns hinaus in die Grünanlagen gehen. - Kaffee und Kuchen gibt es dort auch! Herbert hatte nur den Kopf geschüttelt. ‚Mir ist nicht danach. Aus Trotz bin ich an diesem Tage einmal allein gegangen. Nach kappen zwei Stunden machte ich mich wieder auf den Heimweg. Schon da begann mich rätselhafte Unruhe zu peinigen. Wie zum Hohn raste wenige Minuten später ein blauzuckendes Flammenmeer an mir vorüber. Und die schrillen Töne des Rettungswagens und der Notärzte glaubte ich in jähem Erschrecken nur deuten zu können: ,Herbert ... Herbert ... Herbert!
Die Ahnung hatte mich nicht betrogen: Herbert war auf der Straße tot in sich zusammengesunken. Wahrscheinlich wollte er mir doch nacheilen ..."
Aus dem Gesicht der neuen Ärztin läßt sich Mitgefühl herauslesen. Schließlich fragt sie: "Und das quält Sie jetzt sehr?"
"Ja!" nickt die alte Frau, "das quält mich sehr ....! - Daran muß ich immer denken ...!"
Frau Dr. Susanne Wittfeld macht es sich mit einer Antwort nicht leicht. Das sieht man an ihrem reiflichen Nachdenken. Schließlich seufzt sie: "Ach Gott, Frau Schreiner, fast in jedem Menschenleben spielen eigene, spon-tane Handlungen eine nicht unbedeutende Rolle. Mögen die Motivationen dazu aus Bösartigkeit oder Gutherzigkeit geschehen sein. Manchmal schneiden diese spontanen Handlungen tief und schmerzhaft in das sogenannte Schicksalsgefüge ein. Manchmal kommt man auch mit einem ‚blauen Auge davon. Jedenfalls sollte man sich aber davor hüten, ein künstlich gezüchtetes Schuldgefühl in sich aufkommen zu lassen. Das Ergebnis sehen Sie nun an sich selbst ...!"
Am nächsten Tag sieht man die alte Frau schon wieder auf dem langen farblosen Gang. "Na, geht es wieder?" begrüßen sie die Mitbewohner.
Die alte Frau lächelt ihnen nur freundlich zu. Das ist Antwort genug. "Was für Medikamente hat Frau Doktor Ihnen denn verordnet?" wollen sie jetzt wissen. "Keine. - Sie gab mir nichts", ist die knappe Antwort.
Die Entrüstung folgt auf dem Fuße. "Seht ihr! - Seht ihr! - Sie will doch an uns sparen ..."
Die alte Frau schmunzelt tief in sich hinein. Sie jedenfalls ist glücklich! Sie freut sich auf den Abend. Denn da will die neue Ärztin mit ihr in die Parkanlage hinaus. Frau Doktor möchte unbedingt die Pflanzen und Blüten von ihr erklärt haben. Und Frau Doktor möchte auch von ihr wissen, welche Krankheiten verschiedene Kräuter zu lindern vermögen. Frau Doktor ist sehr daran interessiert! Und sie, Frau Margarethe Schreiner, geb. Stellmacher, - sie weiß ja darüber Bescheid. - Sie weiß es ja noch von den ganz Alten ... |
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