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Wir sind ein Volk!", skandierten viele Mitteldeutsche leidenschaftlich im November 1989. Helmut Kohl behauptete später: "Ich wollte Deutschlands Einheit".
An dieser zähen "Legende" kratzt und feilt Karl Hugo Pruys. In den 70er Jahren arbeitete er als Parteisprecher des damaligen CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl. Pruys, den Kohl einen "Verräter" nannte, publizierte bereits 1995 eine kritische Kohl-Biographie. Pruys Generalthese lautet: "Helmut Kohl wollte die deutsche Einheit nicht!" Kohl habe die Einheit abgelehnt, weil sie ihn seiner "Führungsrolle" hätte berauben können. Groteskerweise habe Kohl nur wegen der Wiedervereinigung die Bundestagswahl von 1990 gewonnen. Am Anfang der "Berliner Republik" hätten Mißverständnisse und Lügen gestanden. Kohl habe an der Wiedervereinigung kein Verdienst getragen. 1989 "konnte er nicht mehr nein sagen, das war und ist alles". Kohls Behauptung, er habe schon immer die Einheit gewollt, sei definitiv falsch. Den Mauerfall habe der "schwarze Riese" völlig unvorbereitet erlebt, weil er die Wiedervereinigung "nicht herbeigesehnt" gehabt habe.
Dabei hätten Gorbatschow und Schewardnadse bereits ab 1986 die deutsche Wiedervereinigung erwogen. Am 28. Oktober 1988 habe Kohl mit Gorbatschow ein höchst bemerkenswertes Gespräch geführt. Der sowjetische Staatschef habe Kohl die Wiedervereinigung angeboten! Deutschland müsse lediglich die Nato verlassen. Auch die Nato-Mitgliedschaft der Deutschen hätte Gorbatschow notfalls hingenommen, um mehr Geld zu erhalten.
Doch Kohl habe dieses sensationelle Angebot bedenkenlos zurückgewiesen; er habe nicht einmal verhandelt, obwohl Kohl den Sowjets 1988 weniger als 1990 hätte zahlen müssen. "Er hat eben alles falsch gemacht, und zwar deshalb, weil ihn die Einheit aus dem Karriere-Gleichgewicht zu bringen drohte!" Innerhalb eines vereinten Deutschland, habe Kohl geargwöhnt, verliere er die Mehrheit. Bis heute untersage es Kohl, das Gesprächsprotokoll vom 28. Oktober 1988 zu veröffentlichen.
Regelmäßig habe der massige Kanzler den CDU-Bundestagsabgeordneten Bernhard Friedmann niedergebügelt, wenn dieser Kohl aufgefordert habe, in Sachen Einheit etwas zu unternehmen. "Blühender Unsinn", habe der bräsige Pfälzer erklärt und Friedmann dafür getadelt, daß dieser den Ostblock destabilisiere!
Kohl habe gehofft, die bankrotte DDR zu retten; er habe völlig deren morbide Situation verkannt. Dem Kanzler hätten eben, wie Pruys darlegt, gute politische Instinkte gefehlt. "Honecker weiß", habe Kohl dem verblüfften Gorbatschow gesagt, "daß ich nicht die Absicht habe, ihm das Leben schwer zu machen". Letztlich, so Pruys, behielt Kohl nur die eigene Macht im Blick.
Noch am Vortag des Mauerfalls habe Kohl mitnichten verlangt, die DDR zu beseitigen, habe nur deren "grundlegende Reform" verlangt und der SED sogar umfassende wirtschaftliche Hilfe angeboten. Wochen später habe er das Projekt einer "Konföderation" beider deutscher Staaten verkündet. Hätte Kohl diese Idee realisiert, legt Pruys überzeugend dar, wäre der historische Schwung erlahmt und die deutsche Einheit womöglich ad calendas graecas vertagt worden.
Zwar habe Kohl den Willen der Mitteldeutschen zur Wiedervereinigung akzeptiert, aber er sei damit gescheitert, die Einheit ökonomisch zu realisieren. Auch hier habe der Kanzler zahlreiche Fehler begangen; man denke nur an die falsch konstruierte Währungsunion. Bis Ende 1989, als ihn die Ereignisse überrollten, lautet das Fazit des Autors, war Kohl "zu keinem Zeitpunkt ernsthaft am Zustandekommen der Einheit interessiert". Die Lektüre des Büchleins ist wärmstens zu empfehlen. Rolf Helfert
Karl Hugo Pruys: "Helmut Kohl - Der Mythos vom Kanzler der Einheit", edition q im Bebra-Verlag, Berlin 2004, 136 Seiten, 16,80 Euro |
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