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Weshalb der 11. November gerade den Namen "Martinstag" trägt, konnte mir die alte Masurin, mit der ich eben über allerlei heimische Volksbräuche plauderte, nicht genau sagen. Da erklärte ich denn, dieser Tag wäre dem heiligen Martin geweiht und hätte noch heute in Westdeutschland, in dem germanischen Teil der Niederlande, in Belgien und in Nordfrankreich seine brauchhafte Eigentümlichkeit darin bewahrt, daß am Martinstag der neue Wein ausgeschenkt wird. Außerdem brennt man am Ehrentag dieses Kirchenheiligen noch in den oben genannten Gegenden ähnlich unserem Johannisfeuer das "Martinsfeuer" ab.
"Na, das kennen wir hier alles nicht", bemerkt dazu mein Gegenüber. "Aber dafür kennen wir die Martinsgans!" falle ich schnell ein, um das Gespräch nicht stocken zu lassen. "Ja, die Martinsgans", bestätigt die alte Frau lächelnd. Ihre Züge erhellen sich dabei ein wenig, und die alten Augen leuchten hell auf, als ob sie plötzlich selig-schöne Bilder aus vergangenen Zeiten auferstehen sehen. "Das waren noch herrliche Zeiten damals, wenn die dampf ende Martinsgans als erster Gänsebraten auf den Tisch kam. Wir jungen Leute haben dann nach dem Essen je zwei an den beiden Enden des Brustbeins angefaßt und gezogen. Wer von uns das längere Stück des zerbrochenen Gänseknochens in der Hand behielt, der würde länger leben. Aber der Vater hat vorher immer erst festgestellt, ob es im kommenden Winter viel Schnee gibt." - "Wie? An dem Brustbein?" - "Ja, an seiner Farbe. War der Knochen hell und weiß, so gab es einen schneereichen und kalten Winter, war er mehr rötlich, dann blieb der Winter gelinde." - "Traf das auch immer so ein, ich meine mit dem strengen oder mäßigen Winter?" - "Hm! - Das weiß ich nicht mehr ganz sicher. Aber doch, ja, das stimmte immer."
"Ist nicht der Martinstag auch der Tag des Gesindewechsels? Ich glaube wenigstens, davon schon gehört zu haben." - "Gewiß, das ist schon richtig. Ich besinne mich noch ganz deutlich darauf. Wir hatten ja zu Hause eine große Wirtschaft und brauchten immer fremde Leute. Um Martini herum trat das neue Gesinde regelmäßig seinen Dienst an." - "Um Martini herum, sagen Sie? Warum denn nicht genau am 11. November?"
"Nun, das hat schon seine Richtigkeit und seine Wichtigkeit: Der Antrittstag durfte nämlich, wenn man nicht mit seinem neuen Dienstherrn in Zank und Streit geraten und womöglich die neue Stelle bald wieder verlieren wollte, nur ein Mittwoch oder Sonnabend sein." - "Traf also Martini zum Beispiel auf einen Donnerstag, so durfte erst am Sonnabend der neue Dienst angetreten werden, und war der 11. November ein Sonntag, dann fand man sich eben erst am Mittwoch auf seiner neuen Stelle ein?" - "Ganz recht. Jedenfalls durften die Knechte und Mägde bei uns nur an einem Mittwoch oder Sonnabend neu eintreten." - "Das ist aber sonderbar. Ich habe nämlich an anderer Stelle und bei anderer Gelegenheit einmal erfahren, daß man am Mittwoch zum Beispiel nichts anfangen darf, was von Dauer sein soll, und daß am Sonnabend keine Reise und kein Dienst angetreten werden darf." - "Nein, mir ist davon nichts bekannt. In meinem Elternhause wenigstens war der Termin des Gesindewechsels immer der 11. November. Wenn der Tag eben nicht paßte, war es der Mittwoch oder Sonnabend darauf."
"Außerdem habe ich noch gehört, daß - es war auch im Kreise Lyck - man den neuen Dienstleuten nach alter Sitte sofort nach ihrer Ankunft zunächst etwas zu essen anbot. War das bei Ihnen auch üblich, oder kennzeichneten in Ihrem Vaterhause andere brauchhafte Sitten den Gesindewechsel?"
"Nein, bei meinen Eltern kannten wir das mit dem Essengeben nicht. Dafür mußte aber bei uns das neue Gesinde zuallererst Wasser holen. Ob aus einem See oder einem Brunnen war ganz gleich. Und zwar hatten die Knechte Wasser für das Vieh und die neuen Mägde Wasser für die Kühe zu bringen. ‚So wie das Wasser fließt, so schnell fließt das Jahr dahin , heißt es nämlich in einem alten Spruch. Deswegen mußten sie auch am Mittwoch oder Sonnabend eintreten, denn erfolgte der Dienstantritt an einem anderen Tage, so war das Jahr lang und schwer."
"Verließen die Leute nach einem Jahr wieder ihre Stelle, oder blieben sie länger da? Ich nehme doch an, man behielt tüchtige und arbeitsame Menschen lange bei sich?" - "Das tat man auch. Wer indessen fort wollte, durfte am nächsten Martinstag die Stelle getrost verlassen. Aber wer bei seiner alten Herrschaft zu verbleiben gedachte, mußte nach Jahresfrist dieselbe formenhafte Handlung mit dem Wasserbringen wiederholen und durfte dann weiterhin an Ort und Stelle bleiben."
"Gibt es über diesen Gesindewechsel noch irgendeinen volkstümlichen Spruch oder ein Volkslied oder etwas Ähnliches?" - "Doch: Diejenigen, die ihre Stelle wechselten, sangen dann immer ein Abschiedslied oder vielmehr nur einen Vers." - "Kennen Sie diesen Spruch noch und können Sie ihn mir verdeutschen? Er wurde doch sicherlich in masurischer Mundart gesungen oder gesprochen?" - "Wenn ich richtig übertrage, lautete er etwa: ‚Martini, Martini. Das ist meine Hochzeit. Gab mir mein Herr meine Kalende, wo bleibe ich jetzt? Kalende werden Sie vielleicht nicht verstehen. So hieß man damals nämlich den Lohn, oder heute sagt man wohl: das Gehalt. Die Kalende bestand indessen meistens aus Geld und aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen oder anderen nützlichen und praktischen Dingen, die man den aus dem Dienst Scheidenden mitgab."
"In dem eben genannten Abschiedsspruch heißt es gegen Ende ‚wo bleibe ich jetzt ? Hatten denn die Mägde und Knechte, die ihre Dienststelle verließen, sich nicht rechtzeitig nach einer neuen Arbeitsstätte umgesehen?"
"Ja, das hatten sie schon getan. Jedoch sie dürfen solche alten Volkssprüche nicht gar zu ernst und zu genau nehmen. Ganz im Gegenteil: der Tag des Gesindewechsels erhielt noch seinen besonderen Reiz dadurch, daß man am Abend recht ausgelassen war und obendrein noch getanzt wurde. Nachbars Ältester kam immer mit seiner Handharmonika zu uns rüber, und dann hätten Sie mal die neuen Mägde und Knechte sehen sollen! Hei, haben wir damals getanzt, kann ich Ihnen sagen! Getanzt, daß die Flicker flogen!" aus "Unser Masuren-Land", Nr. 22/19 |
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