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In Europa gilt der Primat des Rechts, in islamischen Ländern der Primat der Religion. Zwar ist die Türkei gemäß ihrer Verfassung eine Demokratie und ein Rechtsstaat, aber die Debatte um den Ehebruchparagraphen im Strafrecht zeigt, wie schwer sie sich damit tut, vor allem unter dem islamisch en Regierungschef Erdogan. Der Vorrang der Religion steht zwar nicht in der Verfassung, ab er ist in Köpfen und Herzen verankert, in Sitten und Gebräuchen kodifiziert. Premier Erdogan ist ein Sultan der Moderne.
So führt er sich manchmal auch auf, besonders wenn es um den Beitritt seines Landes zur EU geht. Er will sich nicht in die inneren Angelegenheiten seines Landes hereinreden lassen. Aber der Primat des Rechts ist keine nationale Angelegenheit. Er ist universal, vor allem wenn es um die Menschenrechte geht. In ihm ruht auch das Selbstverständnis Europas. Es darf nicht dazu kommen, daß, wie der Vorsitzende der größten Fraktion im Europäischen Parlament, die Europäische Volkspartei, Hans-Gert Pöttering, sagt, das "identitätsstiftende Band" zerstört werde. Das aber wäre der Fall, wenn die Türkei Vollmitglied würde. Pöttering und dem außenpolitischen Sprecher der CSU in Straßburg, Bernd Posselt, ist es zu verdanken, daß die EVP derzeit mehrheitlich gegen einen Beitritt der Türkei ist. Posselt warnt die C-Politiker, die für einen Beitritt sind, vor "Wahlbetrug". Man habe den Wählern vor der Europawahl eine klare Position, nämlich das Nein zur vollen Mitgliedschaft versprochen. Wer sich jetzt für einen Beitritt ausspricht, der schadet der CDU und Europa. Wähler wollen Klarheit, das haben auch die Wahlen in Sachsen und Brandenburg gezeigt.
Es gibt noch zwei Argumente gegen einen Beitritt, von denen jedes schon ein Nein rechtfertigt. Allen Kennern der wirtschaftlichen Verhältnisse ist, erstens, klar: Ein Beitritt der Türkei würde die anderen über Jahrzehnte mindestens 20 Milliarden Euro pro Jahr kosten (allein Deutschland müßte jährlich mindestens 14 Milliarden Euro aufbringen), zusätzlich zu den Kosten der Osterweiterung. Das ist nicht zu verkraften. Die EU mit der Türkei in ihrer Mitte wäre staatsphilosophisch entkernt, politisch nicht mehr handlungsfähig, wirtschaftlich im besten Fall eine große Freihandelszone vom Atlantik bis zum Kaukasus und von Grönland bis zur Levante.
Hinzu kommt, zweitens, der geopolitische Faktor Demographie. Der Islamkenner Hans Peter Raddatz schreibt lakonisch: "Bei derzeit zirka 30.000 jährlich nach Deutschland einwandernden türkischen Frauen und einer - konservativ - angenommenen Geburtenrate von 2,5 Kindern (6. Familienbericht: 2,95) öffnet sich bei einer etwa halb so hohen Rate auf deutscher Seite eine erhebliche Schere, die durch einen EU-Beitritt ab etwa 2013 dynamisch verstärkt werden und ab 2020 die Türkei als demographisch stärkste Kraft in der EU ausweisen würde. Nach 28 Millionen Einwohnern im Jahre 1960 und 70 Millionen heute wird die türkische Bevölkerung um 2025 in der Türkei und Deutschland dann zusammen bei 100 Millionen liegen und dabei auch wachstumsmäßig die gesamte heutige EU klar übersteigen". Die Aufnahme der Türkei in die EU wäre der Fall Wiens mit anderen Mitteln.
Unter manchen Europa-Politikern ist unvergessen, was Erdogan als Mitverfasser eines Manifests seiner Partei 1997 empfahl: die Vernichtung aller Juden und den Kampf gegen den Westen, indem man die "Demokratie nicht als Ziel, sondern als Mittel" begreife. Er mag das heute, auch bei seinen Besuchen in Brüssel und seinen freundschaftlichen Treffen mit dem deutschen Bundeskanzler, verneinen. Die Zweifel an seinem Demokratieverständnis bleiben. Die Zweifel an seinem Denken über die Stellung der Frau oder über religiöse Minderheiten auch. Die Idee Europa endet am Bosporus. Wer sie überdehnt, macht sich zu ihrem Totengräber.
Zwischen zwei Welten: Der Blick über den Bosporus ist immer auch der Blick auf einen anderen, fremden Kontinent. Die Wasserstraße, die Europa und Asien trennt, symbolisiert die Grenze zwischen zwei unter-schiedlichen, gegensätzlichen Wertesystemen, Rechtsprinzipien und religiösen Grundsätzen. Dennoch empfiehlt EU-Erweiterungskommissar Verheugen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, ohne Rücksicht darauf, daß der vom Islam geprägte Staat größtenteils in Asien liegt. |
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