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Da sitzen sie mir nun gegenüber und plaudern so angeregt miteinander, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen. "Weißt du noch, Annchen?" höre ich meine Mutter sagen, und dann folgt eine weitere mir längst vertraute Geschichte aus der Kindheit der beiden Schwestern. Tantchen nickt versonnen, um dann ihrerseits in der Vergangenheit herumzugraben. "Möchte noch jemand Käsetorte?" frage ich zwischendurch, aber die Unterhaltung steuert gerade mit Volldampf
auf die Jugendzeit zu und so verhallten meine Worte quasi ungehört. Ich lehne mich zurück, nippe an meinem Kaffee und wundere mich, was um alles in der Welt an einem schlichten Erntefest so interessant sein soll? Aber ich bin ja auch nicht dabeigewesen, damals, als die samtene Wärme einer ostdeutschen Sommernacht ihren Zauber verströmte und der Klang der Handharmonika unbestimmte Wünsche und Sehnsüchte zum Leben erweckte! Man feierte Plon. Die Ernte war glücklich eingebracht; nach harter, schweißtreibender Arbeit warteten nun Musik, Tanz und deftiges Essen auf Bauer und Erntehelfer.

Welch ein Vergnügen das doch für zwei junge Mädchen gewesen sein muß: mit den Nachbarsburschen herumzutändeln, sich träumerisch zur Musik zu wiegen und für eine Nacht vergessen, daß es Kriegssommer ist ...

Nachdenklich säbele ich mir nun selber ein großes Stück Kuchen herunter. So interessiert ich auch an allem bin, was mit Ostdeutschland zusammenhängt - langsam beginne ich doch, mich zu langweilen. Natürlich muß es herrlich gewesen sein, barfuß über sonnenheiße Sandwege zu laufen, herrlich auch, sich im Winter an den warmen Kachelofen zu schmiegen und der Mutter beim Gänserupfen zuzusehen, nur - es ist nicht meine Kindheit, ist nicht das eigene Erleben, was da zur Sprache kommt!

Unser letztes Familientreffen fällt mir ein. Das älteste Mädchen aus Mutters Geschwisterschar stand vor ihrem 80. Geburtstag und der sollte groß gefeiert werden.

Aus allen Ecken Deutschlands trudelten Verwandte ein. So auch mein Lieblingscousin, den ich seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen hatte. Bis in die 70er Jahre hinein hatten Achim und ich ein unzertrennliches Gespann gebildete. Beide sind wir Kinder des Ruhrgebietes. Geschwisterlos und fast im selben Stadtteil wohnend, hatten wir zwei uns eng aneinandergeschlossen.

So viel Schönes, Aufregendes, aber auch Beängstigendes hatten wir zwischen Mietshäusern und Zechenschloten erlebt, daß unser Wiedersehen zum großen Teil von dem alles verklärenden "Weißt du noch" bestimmt wurde.

"Weißt du noch - die Bude an der Ecke, an der wir immer einen Lutscher gratis bekamen?" eröffnete Achim den Reigen. Ich nick-te - vermutlich ebenso versonnen, wie es Tantchen gerade getan hatte -, um meinen Cousin dann an andere, völlig unwichtige, uns selbst aber ungemein prägende, unvergeßliche Eindrücke und Erlebnisse zu erinnern.

Was jeder von uns in den Jahren der Trennung auch erlebt haben mochte - es geriet ins Hintertreffen, verblaßte vor den hell aufscheinenden Kindertagen ...

"Ist noch Kaffee da?" Ich zuck-te zusammen. Mutti hält mir ihre leere Tasse entgegen: "Wenn du so lieb ist ..." Während ich nachschenke, kreuzen sich unsere Blicke. Muttis Augen leuchten. Tiefe Freude spiegelt sich in ihnen. "Ein herrlicher Nachmittag", sagt mir ihr Blick. "Nicht wahr, du weißt, wie gern ich auch mit dir über Ostdeutschland spreche. Aber jemanden dazuhaben, der dieselben Erinnerungen hat - das ist etwas ungeheuer Kostbares, das ist ein Geschenk! Du verstehst?" Meine Augen lächeln ihr zu. Ja, ich verstehe sehr gut. Schließlich bin auch ich ihm erlegen - dem Zauber des "Weißt du noch?"

Verbunden durch die selben Erinnerungen
 
     
     
 
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