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In der vergangenen Woche kam es in der Kleinstadt Kondopoga in Rußlands nördlicher Provinz Karelien im Restaurant "Tschaika" zu einem Streit zwischen dem aus Tschetschenien stammenden Wirt und einigen einheimischen Gästen. Innerhalb kürzester Zeit war eine Massenschlägerei im Gange, in deren Verlauf drei Karelier getötet und weitere neun verletzt wurden. Dem Wirt waren Landsleute zu Hilfe gekommen, die scheinbar aus dem Nichts auftauchten und mit Schlagstöcken und Messern bewaffnet in das Geschehen eingriffen. Noch in derselben Nacht brannte das Restaurant völlig aus, Geschäfte und Verkaufsstellen von in der Stadt ansässigen Tschetschenen und Aserbaidschanern wurden zerstört.
Am nächsten Tag demonstrierten zirka 2000 Menschen in der rund 35000 Einwohner zählenden Stadt Kondopoga vor dem Gebäude der Stadtverwaltung. Die Versammlung wurde von Nationalisten der Moskauer "Bewegung gegen illegale Einwanderung" mit initiiert. Die Teilnehmer forderten die Behörden auf, alle Bewohner tschetschenischer Herkunft innerhalb von 24 Stunden aus Kondopoga zu vertreiben sowie Marktstände und Läden nur noch an Einheimische zu vermieten.
Zunächst versuchten die Behörden von Kondopoga, den Vorfall herunterzuspielen. Sie sprachen von einem örtlichen Alltagskonflikt. Von antikaukasischen Pogromen könne keine Rede sein, meinte Sergej Katanandow, Kareliens Gouverneur. Es habe sich bei den Streithähnen um junge Leute gehandelt, die noch Ferien hätten und nichts mit sich anzufangen wüßten. Über 100 Personen wurden nach den Ausschreitungen festgenommen, fünf wurden schließlich unter Mordanklage gestellt. Bei den Tatverdächtigen handelte es sich um vier Tschetschenen und einen Aserbaidschaner.
Die Stadtoberen von Kondopoga haben sich inzwischen dem Willen ihrer Bürger gebeugt. Tatsächlich wurden Tschetschenen und Aserbaidschaner von Märkten und aus Läden entfernt und mußten die Stadt verlassen. Sie sind in die Hauptstadt des Gebiets Karelien, nach Petrosawodsk umgesiedelt, wo schon mit weiteren Pogromen gerechnet wird.
In Kondopoga patrouillieren Sicherheitskräfte (unter anderem der Spezialeinheit OMON) rund um die Uhr, für abends wurden Ausgangssperren verhängt, und Alkohol gibt es nur noch in begrenzten Mengen.
Daß die Behörden zu Maßnahmen greifen, die normalerweise in Kriegs- oder Katastrophensituationen durchgeführt werden, beweist, wie ernst die Lage in Wirklichkeit ist. Experten sehen in den Vorfällen ein ernstes Signal für die Behörden. Sie glauben, daß Ähnliches in Zukunft auch an anderen Orten geschehen wird, weil nationalistische Stimmungen in Rußland überaus stark sind. Dabei spielt nicht zuletzt das soziale Gefälle zwischen sehr arm und sehr reich eine Rolle.
Selbst wenn in den vergangenen zehn Jahren der Lebensstandard in Rußland insgesamt leicht gestiegen ist, fühlen die Bewohner weit abgelegener Regionen sich immer noch zurückversetzt und übergangen.
Überfälle und Angriffe auf Menschen anderer Herkunft sind in Rußland keine Seltenheit und beschränken sich nicht nur auf Kaukasier. Gerade in jüngster Zeit wurden sowohl Europäer als auch Asiaten selbst in Moskau oder St. Petersburg Opfer von Gewalt.
Tschetschenien und Rußland verbindet eine bewegte, von blutigen Kämpfen bestimmte Geschichte. Das Bild der Russen von den Tschetschenen, abfällig "Tschornye" (Schwarze) genannt, ist von Vorurteilen geprägt.
Im 19. Jahrhundert wehrten sich Tschetschenen erbittert gegen die russische Kolonisierung des Kaukasus. Erst 1859 gelang es dem zaristischen Rußland, Tschetschenien zu erobern. Unter Stalin gerieten Tschetschenen unter Kollaborationsverdacht mit den Nationalsozialisten. Deportationen nach Kasachstan und Mittelasien waren die Folge. Erst ein Jahrzehnt später durften sie zurückkehren, doch viele ließen sich in anderen Regionen Rußlands nieder. Tschetschenen schließen sich mit ihren Landsleuten in engen Gemeinschaften zusammen, bilden Parallelgesellschaften und lassen sich nicht integrieren.
Unter Russen ist die "Tschetschenenmafia" gefürchtet, vielerorts versuchen Tschetschenen, die Geschäftswelt unter ihre Kontrolle zu bringen, gehen rücksichtslos gegen Konkurrenten vor und erpressen Schutzgelder. Darüber hinaus herrscht unter vielen Tschetschenen ein ausgeprägter Nationalstolz. Gepaart mit der Tradition der Blutrache ergibt das eine explosive Mischung.
Immer wieder ist es in der Vergangenheit zu Gewalttaten gekommen. Russische Nationalisten, Anhänger der "Patrioten Rußlands", "Rodina", und der "Bewegung gegen illegale Einwanderung" etwa sehen den Vorfall in Kondopoga als Bestätigung für ihre Forderung nach ethnischen Säuberungen.
Die Tschetschenen geben sich jedoch nicht so leicht geschlagen. Ihr Premier Ramsan Kadyrow hat angedroht, selbst für Ordnung in Kondopoga zu sorgen, falls die örtlichen Machthaber dazu nicht in der Lage sein sollten. Tschetscheniens Präsident Alu Alchanow sprach sich kategorisch gegen eine Übersiedlung aller Tschtschenen in ihre Heimat aus und verurteilte die Pogrome. |
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