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Befreiung oder Niederlage oder was?

 
     
 
Die Ursachen, die zum Zweiten Weltkrieg führen, liegen wie bemalte Glasscheiben übereinander. Ganz klar sieht man nur das bunte Bild auf dem obersten, zuletzt aufgelegten Glas. Das Bild auf der nächsten, darunter liegenden Scheibe ist noch erkennbar, doch schon erheblich matter. Die Bilder auf den unteren, älteren Glasplatten schimmern nur noch ganz schwach durch, doch ihre Farben und Konturen sind noch immer ein Teil dessen, was man von oben sieht. So zeigt das Oberflächenbild, daß erstens 1939 Deutschland über Polen herfällt, zweitens Rußland sich die Hälfte Polens raubt, drittens Polen dabei nur das Opfer ist, viertens Frankreich und Großbritannien den bedrängten Polen helfen und fünftens die Vereinigten Staaten von Amerika zu guter letzt die Helfer unterstützen und retten.

Doch schon das Bild darunter - von 1920 an - zeigt die schweren Menschenrechtsverletzungen an den 11 Millionen Menschen der nichtpolnischen Minderheiten im Vielvölkerstaat Polen. Die Drangsalierung der Millionen von Ukrainern, Deutschen und Weißrussen in Polen nimmt 1939 Formen an, daß schon sie allein ein Kriegsgrund für die Sowjetunion und Deutschland gegen Polen hätten sein können. Zum Bild auf dieser zweitobersten Glasscheibe gehören außerdem der deutsch-polnische Streit um Danzig und um freie Verkehrsverbindungen durch den "polnischen Korridor" ins damals vom Reich abgetrennte Ostdeutschland und die noch offene sowjetisch
e Rechnung für die Gebiete der Ukraine und Weißrußlands, die ihnen Polen 1920 abgenommen hatte. Auf einer weiteren Schicht darunter sind die Rüstungswettläufe der Amerikaner, Briten und Japaner ab 1920 erkennbar, die Rüstungsaufholjagd der Sowjets ab 1930, die von den Franzosen bis 1933 blockierten Genfer Abrüstungsverhandlungen und dann die deutsche Wiederaufrüstung ab 1934. Aus den Schichten tieferer Gläser schimmern noch die Demütigungen bis oben durch, die die Siegermächte 1920 den Deutschen, den Österreichern und den Ungarn durch "Versailles" und die entsprechenden Verträge bereitet hatten, die Kriegsvorbereitungen der Briten ab 1906 gegen das kaiserliche Deutschland, die Rache der Franzosen für ihre 1871 erlittenen Gebietsverluste und die Demütigung der Polen bei den drei Teilungen ihres Staates aus der Zeit davor. Dieses alles und viel anderes mehr zeigt 1939 Wirkung.

Nun kann die gesamte Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs in einer kurzen Abhandlung, wie dieser, nicht mit allen früheren Ansprüchen, Vertragsbrüchen, Kriegen und "alten Rechnungen" nachgezeichnet werden. Hier soll nur folgen, wie Deutschland, Polen und die Sowjetunion auf ihren Krieg von 1939 zusteuern.

Das polnische Drama von 1939 braut sich seit 1918 in einer nur kurzen, doch turbulenten Vorgeschichte unheilvoll zusammen. Die schwierige Neuregelung der territorialen Abgrenzung zwischen dem wiedererstandenen Polen und seinen Nachbarn wird im Januar 1918 durch den Präsidenten der USA Wilson vorgezeichnet. Wilson verlangt in seinen berühmten 14 Punkten:

"Es soll ein unabhängiger polnischer Staat errichtet werden, der die von unbestreitbar polnischer Bevölkerung bewohnten Gebiete umfassen soll und dem ein freier und sicherer Zugang zum Meer gewährleistet werden soll."

Die unklaren Formulierungen in dieser Forderung erzeugen eine ungeheuere Sprengkraft in allen späteren Gebiets- und Grenzregelungen, die für Polen und alle seine Nachbarn gelten werden. Die Worte "unbestreitbar polnische Bevölkerung" erwecken bei den Polen die Erwartung, daß jeder Landstrich, auf dem Polen leben, in Zukunft polnisch wird. In Rußland Österreich, Litauen und Deutschland denkt man dabei eher an die Territorien, auf denen die Polen eine Mehrheit bilden. Wilson proklamiert zudem das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" als Leitprinzip der territorialen Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg. Bei den besiegten Völkern erzeugt es daher Verbitterung, daß das versprochene Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Verträgen von Versailles und Saint-Germain nicht eingelöst wird. Im Falle Danzigs und des "Korridors" löst der dauerhafte Bruch des Selbstbestimmungsrechts den Zweiten Weltkrieg aus.

Die zweite Formulierung, die Zündstoff birgt, liegt in den Worten vom "freien und sicheren Zugang zum Meere". Wilson denkt dabei zwar zunächst nur an bloße Wegerechte, wie sie ja auch der neuen Tschechoslowakei auf der Elbe zugestanden werden. Aber für die Staaten, die in Versailles das neue Polen konstruieren, ist das durchaus nicht klar. Sie machen daraus den ganzen Landstrich Pommerellen einschließlich der Stadt Danzig. Die so interpretierte Wilson-Formulierung verleitet die Regierung Polens zwei Jahrzehnte später zu einer steifen Haltung in der Danzig-Frage. Da Deutschland diesen freien Zugang ab 1938 auch außerhalb von Danzig garantiert, berufen sich sowohl die Polen als auch die Deutschen 1939 auf diese Wilson-Forderung und gehen damit in den Krieg, beide im Bewußtsein, Recht zu haben.

Der neu gegründete Staat Polen bekommt von den Siegermächten Land und Menschen aus dem Bestand der Nachbarvölker zugesprochen. Dabei befinden sich viele Millionen Menschen, die keine Polen sind und es auch nicht werden wollen. Dennoch sind die Polen mit ihren Landgewinnen nicht zufrieden.

Das neue Polen - kaum gegründet - stellt 1918 aus den ehemals deutschen, österreichischen, ungarischen und russischen Weltkriegssoldaten polnischer Nationalität ein starkes Heer auf und beginnt, sich nach drei Himmelsrichtungen zu Lasten seiner Nachbarn Rußland, Deutschland, Litauen und Tschechoslowakei angriffsweise auszudehnen. Die ersten drei genannten Staaten sind zu der Zeit durch die Revolution im eigenen Lande beziehungsweise den verlorenen Krieg so schwach, daß sie sich der Polen kaum erwehren können. So sind die Konflikte der nächsten 20 Jahre vorgezeichnet.

 
     
     
 
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