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Berlin

 
     
 
Durch meinen Reiseunternehmer wußte ich, daß ein fahrplanmäßiger Personenzug um 15.55 Uhr von Königsberg abgehen würde. Via Braunsberg würde ich einen Schnell- und Schlafwagenzug erreichen, der um 21.17 Uhr von Danzig abgehen und über Bromberg, Warschau, Posen nach Berlin-Lichtenberg fahren würde (wo auch vorher die wieder eingestellten Direktzüge Berlin–Königsberg und in der Gegenrichtung ankamen und endeten). Entsprechend waren auch die Fahrkarten ausgestellt.

Am Zugang zum Bahnsteig 6, von dem aus ich einst ungezählte Male meinen Vater auf Fahrten in sein Jagdpachtrevier im Kreis Preußisch Eylau – Zielbahnhof (der nur noch mit Nebengebäuden erhaltene Bahnhof) Schrombehnen begleitet hatte, wartete die erste merkwürdige und unangenehme Überraschung auf mich. Ein heruntergelassenes Rolltor hinderte am Betreten des Bahnsteigs, über einer Anzeige der Abfahrt 15.55 befand sich eine andere: 15.22 Uhr. Also hieß es bis dahin stehend warten.

Polen und Russen mit vielen Einkaufstaschen warteten ebenfalls schon, immer mehr solcher Einkaufsreisenden kamen hinzu. Was ging hier vor sich? Soviel stand für mich jetzt fest, daß es auf den russisch-polnischen Abgrenzung
sbahnhöfen Heiligenbeil und Braunsberg zu umständlichen und zeitraubenden Kontrollen kommen würde.

Noch vor 15.22 Uhr geht das Rolltor hoch, der Ansturm auf den Zug beginnt. Es ist ein polnischer Zug (PKP), der Zustand der Personenwagen läßt gar manches zu wünschen übrig. Mir gegenüber läßt sich ein Russe mit leicht asiatischem Einschlag nieder. Er versteht kein Wort Deutsch, ist aber im Besitz eines deutschen Personalausweises. Pünktlich um 15.55 Uhr setzt sich unser PKP-Zug in Bewegung.

Durch russisch-radebrechende Befragung des polnischen Zugpersonals und ebenso auskunftsbereiter Russen bringe ich in Erfahrung, daß ich in Braunsberg (polnischer Bereich) anscheinend in einen Anschlußzug umsteigen muß, vorher aber die Zollprozedur stattfindet. Außerdem erfahre ich – zunächst ungläubig –, daß der Anschlußzug gar nicht nach Danzig, sondern nach Gdingen fährt, und daß ich zur Erreichung des Zuges nach Berlin in "Tczew" aussteigen muß. Handelt es sich dabei um Dirschau? Achselzucken auf die Nennung des deutschen Namens, nisnaju, verstehe nicht!

Halt auf dem russischen Kontrollpunkt im Bahnhof Heiligenbeil. Der Anblick des Bahnsteigs verschlägt mir die Sprache. Dicht gedrängt stehen die Menschen auf ganzer Länge des Bahnsteigs, mit ihren Taschen, Beuteln, Kisten und Kasten stürmen sie in die Wagen. Erinnerungen an Ostdeutschland und Deutschland überhaupt im Jahre 1945 und danach werden wach. Jetzt wird mir klar, daß alle meine Mitreisenden zum Einkauf in der "Sonderwirtschaftszone Oblast Kaliningrad" waren, daß sie Waren dort wohl ungleich günstiger als im polnischen Bereich einkaufen können und hier wohl großenteils mit einem Aufpreis gewinnbringend verkaufen wollen. Dieser Handel ist russischerseits offensichtlich sogar erwünscht, denn von russischer Seite findet nur eine Paß-, aber keinerlei Zollkontrolle (im Zuge) statt. Was schon bei der Annäherung an Heiligenbeil offenbar wurde, wird nun zur völligen Gewißheit, kein Zweifel ist mehr möglich: Ich befinde mich in einem reinen Schmugglerzug! Noch bevor der Zug Heiligenbeil in Richtung Braunsberg verläßt, beginnt die "Vorbereitung" auf den polnischen Zoll. Kisten werden aufgerissen, Wodkaflaschen klimpern, werden verteilt. Emsige Frauenhände reißen Zigarettenstangen auf, stopfen die Schachteln beziehungsweise Packungen jeweils zweilagig in strumpfartige schwarze Gaze, um sie dann wie Schwimmgürtel oder Munitionsgurte dort um den gesamten Leib zu binden, wo sie jedenfalls dem Zugriff durch männliche Kontrolleure entzogen sind … Wo diese "Trikotagen" rutschen, hilft eine der anderen durch "Verschnürung" mit Plastik-Klebeband. Wegschauen hilft nichts, überall bietet sich das gleiche Bild. Die polnischen Zugbegleiter schauen völlig unbeteiligt drein. Durch das aufgeregte polnisch-russische Geschnatter dringen vereinzelte deutsche Wortfetzen, darunter das Wort "Marjellchen". Aber es ist kein richtiges Ostpreußisch, kein nachgemachtes Ostpreußisch, auch kein Hochdeutsch. Vielleicht ist es Kaschubisch, der in Braunsberg auf uns wartende Zug fährt ja nach Gdingen! Mein russisches Gegenüber hat nur einen dünnen Beutel bei sich, läuft aber immer wieder in irgendeinen anderen Zugteil.

Als unser Zug sich wieder in Bewegung setzt und im Schrittempo die russisch-polnische Demarkationslinie in Ostdeutschland mit Stacheldraht, gehegtem Sichtstreifen, Wachtürmen und Posten passiert hat und sodann in Richtung Braunsberg auf offensichtlich viel stabilerem Unterbau Fahrt aufnimmt, werden überall die Fenster aufgerissen. Auf das Verpackungsmaterial von Zigaretten, Getränken und so weiter, das bereits das Gelände neben der Bahnstrecke bedeckt, fliegt eine weitere Schicht. Beim Halt in Braunsberg zwängt sich die vielhundertköpfige Zugbelegschaft durch die einzig geöffnete Tür unseres Wagens. Mein russisches Gegenüber ergreift aus freien Stücken zwei meiner größten Gepäckstücke und hilft mir in dieser Weise bei dem nun folgenden "Rundgang" über den gesamten Bahnhof Braunsberg, bis zum Einsteigen in den Anschlußzug. Zunächst erwartet uns auf dem Bahnsteig ein polnischer Grenzpolizist zur Paßkontrolle. Er nimmt auch vereinzelt schon Befragungen wegen des Gepäckinhaltes vor. Unsere Abfertigung geschieht reibungslos. Am Bahnsteigende geht es durch den Bahnhofstunnel zu einem früheren Reichsbahngebäude neben dem Empfangsgebäude, das zu einer Zollstation umgebaut ist. Als wir innen schließlich "an der Reihe" sind, sagt mein russischer "Gepäckträger" den polnischen Zollbeamten, auf mein Gepäck zeigend, daß er mir geholfen habe. Dem zollamtlichen Blick begegne ich mit der Erklärung auf russisch, daß ich zwei Halbliterflaschen (geschenkten) Wodka bei mir habe. Ob ich auch Zigaretten bei mir habe? Nein, nicht eine einzige, ich rauche nicht. Das war’s dann schon, wir dürfen gehen, sind nun "frei". Beim Hereinreichen des Gepäcks in den wartenden Anschlußzug lehnt mein russischer Helfer mit deutschem Personalausweis jegliche Belohnung ab. Überall aus den Wagenfenstern lehnen sich Menschen, die ihre offensichtlich durch den Zoll geschleusten Zigaretten "frohen Herzens" genießen. Der Anschlußzug führt nun auch die 1. Wagenklasse. Freilich muß es schon lange her sein, daß deren Zustand auch erstklassig war. In meinem Abteil nimmt ein junger Russe ohne Deutschkenntnisse Platz.

Das landschaftlich liebliche Oberland, Elbing, Marienburg, Nogat und alsbald die Weichselbrücken, dann läuft der Zug in "Tczew" ein, in Dirschau, wie ich anhand der (nur) polnischen Streckenkarte im Anschlußzug von Braunsberg festgestellt hatte. Wie bin ich froh, daß auch mein neuer russischer Reisegefährte seit Braunsberg mir beim Hinaufwuchten meines Gepäcks vom Bahnsteig auf eine Fahrgastbrücke über die Gleise des Dirschauer Bahnhofs behilflich ist. Dort sind wir allerdings beide mit unserem "Latein" zunächst am Ende. Die lateinischen Buchstaben des polnischen Fahrplans vermag er nicht zu lesen, ich selbst bin ratlos, weil hier zwei Strecken in Richtung Warschau mit verschiedenen Abfahrtszeiten angegeben sind, bei keinem Zug aber die Zugnummer oder gar unser Endbahnhof Berlin. Der Versuch, von anderen Reisenden, die auf Bänken in der Verbindungsbrücke sitzen, Auskunft zu erlangen, scheitert. Mein russischer Begleiter versteht kein Wort Polnisch, umgekehrt verstehen diese Polen hier nicht mehr Russisch – oder wollen es einfach nicht. Verständigung etwa auf deutsch: ebenfalls Fehlanzeige! Mein russischer Begleiter unternimmt eine längere Erkundungstour, derweil ich unser beider Gepäck bewache. Er kehrt mit der Nachricht zurück, daß unser Zug nach Berlin von "Peron 3" abgehen soll.

Auf "Peron 3" erblicke ich einen polnischen Fahrdienstleiter mit der roten Mütze. Er wird mir gewiß verläßliche Auskunft geben können, auf welchem Gleis unser Zug nach Berlin einläuft und in welchem Zugteil sich mein Schlafwagen befindet. Ohne erst Radebrech-Versuche zu unternehmen, zeige ich mit fragendem Blick auf meine Fahrkarten. Der Fahrdienstleiter hat verstanden. Er weist auf Gleis 3 und das Bahnsteigende in Richtung Danzig, von wo unser Zug ja kommen wird. Bis dahin hat es aber noch Zeit. Ganz in der Nähe trifft ein polnisches Ehepaar mit Fahrrädern ein. Ich will mich nochmals vergewissern und erhalte auf die Gegenfrage, ob ich Deutscher bin, in gutem Deutsch Antwort. Wir sollen ganz bis zum Ende des Bahnsteigs gehen … und stehen beim Einlaufen des Zuges "goldrichtig" fast vor dem Eingang des Schlafwagens 262, der unsere Herberge bis Berlin-Lichtenberg sein wird. Ich habe eine Zweibettkabine gebucht, werde aber mangels weiterer Belegung bis Berlin den Vorzug einer Einzelkabine genießen.

Einschlafen ist nicht gleich möglich. Seit meiner Abreise aus Kiel liegen erlebnisreiche und seelisch-inhaltsschwere Wochen hinter mir. Zum ersten Mal seit 1945 habe ich in Pillau wieder in das Hafenbecken geblickt, in dem unser Schiff damals vor der "Reise" gen Westen noch einmal wenige Tage festgemacht hat. Wie einst bei einem Klassenausflug in Friedenszeiten durch den Königsberger Seekanal nach Pillau und Neuhäuser bin ich an der Mole entlanggegangen, neben der der alte Leuchtturm noch heute steht und einst das Denkmal des Großen Kurfürsten stand, habe dort an Not und Tod der Monate Januar bis April 1945 gedacht, als von hier die von deutschen Pionieren gebaute und "Seeschlange" genannte Fähre bei pausenlosen Angriffen sowjetischer Flugzeuge ungezählte Tausende von Menschen zur Nordspitze der Frischen Nehrung (Pillau-Neutief) übersetzte, wo die Gerippe der deutschen Fliegerhallen noch heute zu sehen sind. Habe schließlich Einkehr gehalten an der Nordermole, hinter der damals, Ende Januar 1945, auf eiskalter und sturmgepeitschter See die ostdeutsche Heimat hinter uns versank, gegen deren Molenkopf, genauso wie gegen die gegenüberliegende Südermole, auch diesmal hohe Wellen brandeten. Welche Geborgenheit schufen dagegen auch jetzt immer noch die herrlichen Baumalleen an den alten Landstraßen, vermengten Störche, so zahlreich "wie Sand am Meer", die Bilder von einst und jetzt. Im Bahnhof Bromberg, dessen Architektur derjenigen von Bahnhofsgebäuden an jeder beliebigen deutschen Bahnstrecke gleicht, meldet sich die Erinnerung an die nun einmal auch von polnischer Seite verübten Kriegsverbrechen ganz am Anfang des großen Völkerringens und -mordens zu Wort, die wie dieses überhaupt, noch immer nicht in einem allgemeinen Friedensvertrag ihren endlichen Frieden gefunden haben.

Danach muß ich, physisch und innerlich erschöpft, eingeschlafen sein. Warschau habe ich "verschlafen" und werde erst in Posen wieder wach. Warum nur hält unser Zug hier so lange? Als er sich, mit oftmals gedrosselter Geschwindigkeit, endlich wieder in Bewegung setzt, wird es zur Gewißheit, daß die fahrplanmäßige Ankunft nach Berlin-Lichtenberg um 7.07 Uhr nur noch auf dem Papier steht und ein hierauf abgestimmter, durchgehender Anschlußzug von Berlin-Spandau nach meinem Wohnort Kiel (ich unterbreche nun doch nicht in Berlin) nicht mehr zu erreichen ist. Dessen Abfahrtzeit ist längst verstrichen, als unser Zug in Richtung Berlin sich nach einem ebenfalls unerklärlich langen Aufenthalt in Frankfurt an der Oder endlich wieder in Bewegung setzt. Die polnischen und deutschen Grenzkontrollen waren zügig und offenbar reibungslos verlaufen, schieden also als Ursache für die bereits nach Stunden zählende Verspätung aus. Lag der Grund dafür etwa im bahntechnischen Bereich? Polnische und deutsche Bahnbedienstete hatten – mit verdrossen-angespannten Gesichtern – nacheinander die Bremsbeläge der Wagen geprüft.

Ein gegenüber allen von der Verspätung Betroffenen hilfsbereiter, gleichbleibend freundlicher deutscher Schaffner händigt mir ein Kursbuch "Städteverbindungen" aus. Ich muß in Berlin-Lichtenberg abermals nach Berlin-"Ostbahnhof" (früherer Schlesischer Bahnhof) umsteigen, um dort die nächsterreichbare durchgehende Verbindung nach Kiel um 12.15 Uhr zu erreichen. Somit steht mir die "Peerzerei" mit meinem Gepäck noch zweimal bevor! Kurz vor 10 Uhr laufen wir – statt um 7.07 Uhr – in Berlin-Lichtenberg ein, also mit fast dreistündiger Verspätung. Vom Zugende bis zum Ausgang, durch den Bahnhofstunnel zum Bahnsteig 2, von hier mit der S-Bahn zum "Ostbahnhof", dort durch den nächstgelegenen Tunnel und danach durch einen endlos lang erscheinenden Gang zu den Gepäckschließfächern am anderen Ende der lang gestreckten Bahnhofshalle, wo ich schweißgebadet und mit einem "Gott sei Dank!" schließlich meine Siebensachen für die Dauer von zwei Stunden verstaue. Für die Weiterfahrt nach Kiel gibt es zum Glück einen Aufzug zu dem ganz in der Nähe gelegenen Bahnsteig. Gepäckkarren habe ich hingegen nirgendwo bei meiner Berliner Bahnhofs-Odyssee gesehen.

 
     
     
 
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