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Kribbelig vor Ungeduld rieb sich Eva die schmerzende Schläfe, während sie auf das Grün der Ampel wartete. Jetzt, zur Feierabendzeit, ging es mit dem Auto nur schrittweise voran. Kaum, daß man sich ein paar Meter vorgetastet hatte, mußte man auch schon wieder abbremsen.
Es zerrte an den Nerven, dieses allabendliche "Stop and Go", besonders, wenn der Tag im Büro - so wie heute - mal wieder äußerst stressig gewesen war und sich daheim die Hausarbeit nur so stapelte. Schon der bloße Gedanke an all das, was noch zu erledigen war, verschlimmerte Evas Kopfweh. Statt es sich mit einer Tasse Tee und guter Lektüre auf der Couch bequem zu machen, würde sie staubsaugen, aufräumen, lüften und der Bügelwäsche zu Leibe rücken.
Mitten in ihre sich jagenden Gedanken hinein tauchte vor ihrem geistigen Auge plötzlich ein Bild tiefsten Friedens auf. Es schien greifbar nah: das schlichte, zweckmäßig eingerichtete Zimmer, am Fenster die Staffelei, vor der eine alte Frau saß, weißhaarig und gekrümmt, aber das Gesicht wie von innen erleuchtet, versunken ins eigene schöpferische Werk.
Die Ampel sprang um, Eva gab vorsichtig Gas, doch statt an der Kreuzung wie gewohnt rechts abzubiegen, fuhr sie einfach weiter geradeaus. Ihre Gesichtszüge entspannten sich. Ja, sie würde Tilly besuchen! Mit dem Auto war es nur eine knappe halbe Stunde Fahrt bis zu dem ländlich gelegenen Altenheim, in dem ihre Patentante mittlerweile lebte.
Schon als Kind hatte sie sich in Tillys Gesellschaft unendlich wohl gefühlt. War es der künstlerische Beruf der Tante, der diese für Eva so anziehend machte? Die besondere Aura, die Tilly umgab? Oder war es ganz einfach nur das wunderbare Gefühl des Angenommenseins, des bedingungslosen Geliebtwerdens? Stundenlang hatte sie ihr beim Malen zusehen können, fasziniert von Tillys leuchtenden Augen und der Beseeltheit, mit der sie jeden noch so winzigen Pinselstrich führte.
Nun lebte die Tante im Damenstift. Ihr Körper trug die Last der Jahre, doch ihr Geist war jung geblieben. Und so verging auch jetzt kaum ein Tag, an dem sie nicht voller Freude und Schaffensdrang an ihrer kleinen Staffelei am Fenster saß.
Genau dieser Anblick erwartete Eva, als sie jetzt behutsam die Tür zum Zimmer der Tante aufklinkte. Die Sonne stand schon tief, aber Tilly schien auch dieses letzte mattgoldene Licht dankbar auszunutzen. "Du wirst dir noch die Augen verderben!" schalt Eva liebevoll und drückte einen Kuß auf die zerknitterte Wange. "Ach woher!" entgegnete Tilly lachend. "In meinem Alter hat man entweder eine Brille oder man hat sie nicht. Und ich hab noch nie eine gebraucht! Aber nun setz dich, Liebes, und laß uns gemütlich Kaffee trinken."
Sanft, aber bestimmt, drückte Eva die Tante auf ihren Stuhl hinunter: "Ich bin nicht gekommen, um dich bei der Arbeit zu stören. Noch hast du Licht, noch kannst du malen. Kümmere dich nicht um mich. Mir tut s gut, einfach dazusitzen und dir zuzusehen ..."
Es war wirklich wunderbar entspannend, die Füße hochzulegen, sich eins von Tillys köstlichen Sahnebonbons in den Mund zu stecken und nichts als Frieden und Stille zu atmen.
Als es dämmrig wurde, legte Tilly den Pinsel aus der Hand, zog ihren farbverschmierten Kittel aus und kostete dann neugierig von der
Apfeltorte, die Eva auf der Fahrt hierher noch rasch in der kleinen Dorfbäckerei erstanden hatte. Bei Kaffee und Kuchen verrann die Zeit wie im Flug. Längst hatte Evas Schläfe zu schmerzen aufgehört. Und auch der Gedanke an die liegengebliebene Hausarbeit konnte ihr nicht den Appetit verderben. Irgendwie würde sie schon alles geregelt kriegen, wenn nicht heute, dann eben morgen.
Beim Abschied ruhte ihr Blick nachdenklich auf dem von Furchen und Falten durchzogenen Gesicht der Tante. Für einen Außenstehenden war es vielleicht nicht so ohne weiteres nachvollziehbar - sie selbst empfand es als großes Glück, einen Menschen wie Tilly in ihrer Nähe zu wissen.
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