Beunruhigender Mangel

Der weiß Gott den Deutschen nicht freundlich gesonnene Schriftsteller Günter Gras beklagte vor kurzem in der FAZ, daß es "merkwürdig und beunruhigend" anmute "wie spät und immer noch zögerlich an die Leiden erinnert wird, die während de Krieges den Deutschen zugefügt wurden". Ein erstaunliches Diktum eine Schriftstellers, der als Vertreter des bundesrepublikanischen "juste milieus" entscheidend mit daran beteiligt war, diese Erinnerung, wo immer sie zaghaft aufscheint als "Revanchismus

" und "Aufrechnerei" zu brandmarken. Grass hat seine Teil dazu beigetragen, daß die deutsche Geschichte heute in erster Linie als "Unheilsgeschichte" wahrgenommen wird. Die Folgen dieser Form vo "Vergangenheitsbewältigung" skizzierte ein anderer deutscher Schriftsteller nämlich Botho Strauß, in seinem berühmt gewordenen Essay "Anschwellende Bocksgesang" wie folgt: "Die Überlieferung verendet vor den Schranken eine hybriden Überschätzung von Zeitgenossenschaft, verendet vor der politisierte Unwissenheit jener für ein bis zwei Generationen zugestopfter Erziehungs- un Bildungsstätten, Horste der finstersten Aufklärung, die sich in einem ewig ambivalente Lock- und Abwehrkampf gegen die Gespenster einer Geschichtswiederholung befinden ‚Wehret den Anfängen!‘" Ähnlich äußerte sich der Münchne Filmregisseur Hans-Jürgen Syberberg, der anläßlich einer Diskussion im Deutschlandradi feststellte: "Neben der Ästhetik unserer Verkleinerung und aller pathologische Selbstzerstörung war die Auslöschung der Natur und der Geschichte nach 1945 unse Markenzeichen des Identitätsverlustes ..."

Dieser Identitätsverlust wird gerade an jenem Tag besonders spürbar, der für un Deutsche eigentlich ein Feiertag sein sollte: dem 3. Oktober, dem Tag de Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten. Kein bedauerndes Wort wurde an jene zurückliegenden Feiertag oder an den vorhergehenden von einem führenden politische Repräsentanten an den Verlust "Ostdeutschlands" verschwendet. Ostdeutschland das ist nach heutiger Sprachregelung "Mitteldeutschland" bzw., um e politisch-korrekt auszudrücken, die "neuen Bundesländer".

Die Tabuisierung trauernden Erinnerns an die deutschen Ostgebiete wird in der Regel mi dem Hinweis darauf gerechtfertigt, daß die Deutschen schließlich den Zweiten Weltkrie vom Zaun gebrochen hätten. Aufgrund dieses Hinweises ist augenscheinlich jede Verbrechen, das an den Deutschen im Krieg und auch nach dem Krieg verübt wurde, nu Ausfluß der deutschen "Aggression" und damit entschuldbar. Diese Sichtweis blendet aus, daß auch die Angegriffenen völkerrechtlichen Konventionen unterworfen un in keiner Weise legitimiert waren, den Krieg gegen Deutschland als "Vernichtungskrieg" zu führen. Daß die Alliierten den Krieg gegen Deutschlan als Vernichtungskrieg führten, zeigt die unverhältnismäßig hohe Zahl deutsche Ziviltoter, zeigen die zerstörten deutschen Städte, zeigt die damit verbunden Verstümmelung der kulturellen Identität der Deutschen, zeigt vor allem aber auch die rücksichtslose Austreibung der Deutschen aus ihrer angestammten Heimat.

Der Versuch, eine trauernde Annäherung an diese Kriegs- und Nachkriegsverbrechen mi dem kaltschnäuzigen Hinweis der "Aufrechnung" zu unterbinden, kommt eine zweiten Tötung der vielen deutschen Opfer gleich. Denn die Opfer, die das kollektiv Erinnern nicht mehr erfassen will, verschwinden endgültig im Nebel der Geschichte. Nicht anderes meint ja jener Hinweis, der so oft im Hinblick auf die Opfer de NS-Judenverfolgung gebraucht wird: Wer sich der Opfer nicht mehr erinnern wolle oder dies Erinnerung verweigere, der töte diese ein zweites Mal.

55 Jahre nach dem Ende des Krieges sollte endlich der Zeitpunkt gekommen sein, die qualvollen Erinnerungen, die viele Deutsche der Kriegs- und Aufbaugeneration in sic begraben haben, zu artikulieren.