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Ein Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts hat den Blick auf ein bizarres Gesetz des rot-roten Senats gelenkt, das in diesem Jahr in Kraft getreten ist. Das Gericht wies die Klage einer Frau aus Berlin-Kreuzberg ab, deren Sohn nicht in die zehnte Klasse versetzt worden war - das heißt: sitzengeblieben ist. Die Frau wollte die Versetzung auf juristischem Wege erzwingen. Sie berief sich dazu auf das neue Schulgesetz, wo es unter Paragraph 4, Absatz 2 heißt, die Schule trage die Verantwortung dafür, daß die Schüler "unabhängig von ihren Lernausgangslage n" das Klassenziel erreichen. Wenn bei Schülern "deutliche Leistungsrückstände" festzustellen seien, müßten von den Schulen "individuelle Förderungsmaßnahmen und Bildungspläne" festgelegt werden, "um die Versetzung zu erreichen".
Das Gesetz war als Reaktion auf die Pisa-Studie verabschiedet worden. Es handelt sich um einen Kompromiß, denn wäre es allein nach der PDS gegangen, dann wäre das Sitzenbleiben ganz und gar verboten worden. Doch auch so ist der Gesetzestext problematisch genug. Denn was ist, wenn die Begabung oder die "Lernausgangslage" eine Versetzung objektiv unmöglich macht, allen Fördermaßnahmen zum Trotz? Was können Lehrer tun, wenn der Schüler lernunwillig ist und die Eltern am Bildungsgang ihrer Sprößlinge desinteressiert sind?
Das Gesetz atmet die Bildungspolitik der DDR, die neuerdings auch bei westdeutschen Politikern in einem verklärten Licht erscheint. In der DDR wurde das Sitzenbleiben nur in den allerseltensten Fällen gestattet, jeder Schüler sollte den Abschluß der zehnten Klasse erreichen. Selbst wenn er und seine Eltern wegen einer offensichtlich eingeschränkten Bildungsfähigkeit inständig darum baten, wurde ein früherer Schulabgang immer mehr zu einem Ding der Unmöglichkeit, denn wichtiger als der individuelle Fall war die Erfolgsstatistik. Für die Beteiligten wurde diese Bildungspolitik eine Qual: für die überforderten Schüler, für ihre Lehrer, aber auch für die leistungsstärkeren Mitschüler, die zugunsten der "Problemfälle" in ihren Klassen vernachlässigt wurden.
Die politischen Kräfteverhältnisse in der Stadt erlauben es, Berlin zum Laboratorium einer vermeintlich fortschrittlichen Bildungspolitik zu machen. Bekanntlich streben SPD, Grüne und PDS bundesweit ein Schulmodell an, das eine Trennung nach Leistungskriterien erst ab der achten oder neunten Klasse vorsieht - ein Konzept, das ebenfalls aus der DDR bekannt ist. Bis zur achten Klasse besuchten alle Schüler die Allgemeinbildende Polytechnische Oberschule (POS), danach wurden 15 Prozent der Schüler auf die Erweiterte Oberschule (EOS) delegiert, wo sie nach der zwölften Klasse das Abitur ablegten. Zu Beginn der 80er Jahre wurde die vorgeschriebene POS-Zeit sogar auf zehn Jahre erweitert. Die EOS umfaßte nur noch die elfte und zwölfte Klasse, was automatisch zu einer Absenkung des Leistungsniveaus in der Abiturstufe führte. Dabei war die Ausgangslage in der DDR im Vergleich zu heute günstig, denn die Klassen waren in sozialer und erst recht in ethnischer Hinsicht viel homogener. Sprachbarrieren gab es nicht. Außerdem behielt der Staat sich drakonische Strafen vor: "Schulferne Jugendliche" - wie notorische Schulschwänzer heute heißen - wurden in der DDR nicht geduldet.
Die Richter am Verwaltungsgericht ließen in ihrem Urteil gesunden Menschenverstand erkennen. Sie stellten klar, daß sich aus dem Gesetz "keine einklagbaren Ansprüche der Schüler oder deren Erziehungsberechtigten" ergeben, selbst in dem Fall, wo die Schule nur unzureichende Förderpläne aufstellt. Außerdem betonten sie die Verantwortung der Erziehungsberechtigten, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten selber auf geeignete Fördermaßnahmen hinwirken müßten. Die Klägerin und die Berliner Elternvertretung sehen das anders. Der Fall geht jetzt an das Oberverwaltungsgericht.
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