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Die sogenannte „Mauer in den Köpfen“, in welcher die politisch überwundene Teilung des Landes angeblich in der Haltung der Deutschen über 1990 hinweg fortbestanden haben soll, bröckelt. Laut einer im Januar durchgeführten Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach antworteten mehr Menschen in beiden Teilen der Bundesrepublik als je seit der Vereinigung, daß sie sich vor allem als Deutsche und erst an zweiter Stelle als „West-“ beziehungsweise „Ostdeutsche“ fühlten.
Derzeit sagen demnach 54 Prozent der Menschen in den Neuen Bundesländern, sie fühlten sich in erster Linie als Deutsche. Nur noch 35 Prozent antworten, sie seien in den eigenen Augen vor allem „Ostdeutsche“. Noch 2004 überwog die Identität als „Ostdeutsche“. Kurz nach der Vereinigung war der Anteil jener, die sich „eher als Deutsche“ betrachteten, noch angestiegen, blieb aber selbst im Spitzenjahr 1994 unter 40 Prozent. Dann sackte deren Prozentsatz bis 1996 auf unter 30 Prozent ab. Von da an ging es mit dem Anteil der gesamtdeutsch Fühlenden jedoch kontinuierlich wieder bergauf, wobei nach Einschätzung von Allensbach der bundespolitische Aufstieg von Angela Merkel und Matthias Platzeck in den vergangenen Monaten die Kurve noch einmal steil ansteigen ließ. Offensichtlich widerlegte die Karriere der beiden Politiker jene in den Neuen Bundesländern verbreitete Auffassung, daß es in der vereinigten Republik einen Nachteil mit sich bringe, in der DDR aufgewachsen zu sein.
In den Alten Bundesländern überwog zu allen Zeiten seit 1990 die Identität als Deutscher stets jene als „Westdeutscher“. Dennoch zeigte der Prozentsatz derer, die vor allem gesamtdeutsch fühlen, im Januar mit 71 Prozent (gegenüber 24 Prozent „eher Westdeutsche“) einen bislang nicht erreichten Spitzenwert.
Auffällig ist, daß die Kurven in beiden Teilen der Republik genau parallel verlaufen, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Die „Mauer in den Köpfen“ schrumpfte, wuchs und schrumpfte wieder in Alten wie Neuen Bundesländern genau gleichzeitig.
Die historischen Ursachen dafür, daß das gesamtdeutsche Bewußtsein im Westen der Republik durchweg stärker verankert war und noch ist als im Gebiet der ehemaligen DDR, sind vielfältig. Zunächst wurde die Einheit von den „Westdeutschen“ in der Praxis als die Erweiterung ihres fortbestehenden Staates erlebt. Das gesamte politische, soziale und Wirtschaftssystem wurde in die „Beitrittsgebiete“ übertragen, sogar der Kanzler und der – 1949 als Provisorium eingeführte – Name „Bundesrepublik“ blieben die alten. Im anderen Teil änderte sich hingegen alles, dies war zwar einerseits von den Betroffenen selbst gewollt und herbeigeführt, brachte für viele aber auch schwere Irritationen mit sich – von den kujonierten Anhängern des alten Systems ganz zu schweigen.
Das Bewußtsein, vor allem Deutsche zu sein, herrschte nicht allein in der altbundesrepublikanischen Bevölkerung vor, es entsprach auch dem offiziellen Staatsziel (unabhängig davon, wie ernst es von den jeweiligen politische Akteuren verfolgt wurde) und konnte so stets offen bekräftigt werden. Abgesehen von verbohrten Linksauslegern kam kein „Westdeutscher“ auf die Idee, sich als „Bürger der BRD“ statt als Deutscher zu titulieren. Zahlreiche Gruppen, nicht zuletzt die Vertriebenenverbände, waren überdies in der alten Bundesrepublik öffentlich aktiv, um das Bewußtsein der einen Nation wachzuhalten. Neben den Ostvertriebenen gelangten zudem vor dem Mauerbau Millionen Mitteldeutsche in den Westen, die aufgrund ihrer Lebensgeschichten zum Erhalt eines dezidiert gesamtdeutschen Bewußtseins beitrugen, wie es auf ihre Weise auch die Ostvertriebenen taten.
In der DDR hingegen bestimmte in den 70er und 80er Jahren die Vorstellung vom „Vaterland DDR“ die offizielle Sprache. Öffentliche Appelle oder Aktivitäten im Sinne der Einheit der deutschen Nation waren verboten. Die Millionen Überlebenden der Vertreibung, die hier eine neue Bleibe gefunden hatten, durften öffentlich nicht über ihr Deutschland als ganzes widerspiegelndes Schicksal reden. Inwieweit der staatlich verordnete Separatismus Eingang ins Bewußtsein der Bevölkerung fand, kann nur gemutmaßt werden. Daß staatliche Dauerpropaganda selbst an denen nicht spurlos vorübergeht, die dem Regime kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, ist ein globales Phänomen, unabhängig von Systemen und Regionen.
Nach der Vereinigung 1989/90 taten sich verbissene Gegner der Einheit hervor, die an jener „Mauer in den Köpfen“ mit großem Eifer werkelten, indem sie Ressentiments der Deutschen „hüben gegen drüben“ anfachten. Offenbar ist ihnen aber nicht mehr gelungen, als den Trend einer gewissen Ernüchterung bis Mitte der 90er Jahre höchstens noch zu verstärken. Das von den Allensbacher Demoskopen seitdem registrierte Zueinanderwachsen der Deutschen und dessen Beschleunigung in den vergangenen Monaten konnten sie nicht verhindern.
Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in den Alten Bundesländern 2005 hat zu alledem deutlich werden lassen, daß Massenentlassungen, die Schließung von Betrieben, (selbst, wenn diese rentabel produzierten) und sogar das Abgleiten ganzer Regionen keine Erscheinungen mehr sind, welche lediglich die Menschen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR betreffen, sondern daß wir es mit einer deutschen Krise zu tun haben, unter der alle Teile der Republik leiden. Historisch gesehen bildet sich das Bewußtsein, eine nationale Schicksalsgemeinschaft zu sein, besonders in einer gemeinsam durchgestandenen Krise heraus.
Bald weniger Geld? Theoretisch sollen die Transferleistungen in die Neuen Bundesländer abnehmen. |
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