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Das Land ist erschüttert

 
     
 
Nehmen die Deutschen Abschied vom 20. Jahrhundert? Erst heute, glaubt Eckard Fuhr, Redakteur der Welt, tritt die fundamentale Zäsur von 1989/90 ins volle Licht. Gesicherter Friede und allgemeiner Wohlstand gehörten der Vergangenheit an. "Das Land ist erschüttert, deshalb aber auch besonders wach." Der "Furor des deutschen Selbsthasses" verblasse, und es entstehe "wieder so etwas wie Vaterlandsliebe".

Der von Habermas
proklamierte "Verfassungspatriotismus" bezog das "Gehäuse des Nationalstaats". Die "Adenauersche Linke" habe die Einheit nicht gewollt und eine fiktive "postnationale" Identität konstruiert. Dennoch sei in den 90er Jahren der traditionelle Nationalstaat nicht zurückgekehrt. Der Wiedervereinigung folgten Maastricht und die Globalisierung.

Die rot-grüne Bundesregierung, besonders Kanzler Schröder, proklamiere die Normalität der "Berliner Republik" und aktiviere ein neues "Geschichtsgefühl". Darin bestärke sie Martin Walser, den Schröder als Gastredner der SPD gewann, und der davor warnte, Auschwitz zu instrumentalisieren. Die deutsche Nation begründe ihr "Selbstbewußtsein" durch das "Erlebnis der Zugehörigkeit zu Europa". Schröder opponiere gegen das amerikanische Streben nach Hegemonie. Die "nationale Emanzipation" der europäischen Völker in den Jahren 1989/90 "wies sofort über sich hinaus und suchte Anschluß an das Werden Europas". Deutschland und Europa seien heute versöhnt.

Fuhr analysiert zu wenig die schwierige Dialektik von Europa und Nationalstaat. Wie genau ist dieses Verhältnis zu gestalten? Warum beispielsweise stoßen die Wahlen zum europäischen Parlament auf wenig Interesse? Den "langen Weg nach Westen" hätten die Deutschen zurückgelegt. "Doch an seinem Ende finden sie sich mitten in der deutschen Geschichte wieder." Dieser Satz klingt feuilletonistisch gut; nur bleiben die Fragen, die er beinhaltet, unbeantwortet.

Natürlich darf "9/11" nicht fehlen. Europa betrachte seine "christlichabendländischen" Grundlagen; es wolle Glaube und Vernunft neu synthetisieren. Was aber folgt daraus für die islamische Welt?

Vehement fordert der Autor, soziale Errungenschaften zu demontieren, die nach 1945 deutsche Traumata kompensiert hätten, heute aber, da sich Deutschland normalisiere, Sinn und Zweck verfehlten. "Freiheit geht vor Gleichheit."

Nun schuf der Sozialstaat nie "Gleichheit", sondern er milderte die gröbsten Folgen der Ungleichheit. Dennoch empfiehlt Fuhr der SPD, man glaubt es kaum, sie möge wie 1914 über ihren Schatten springen, als sie die Kriegskredite bewilligte. Frei nach Götz Aly sieht Fuhr im Sozialstaat Reste der "NS-Volksgemeinschaft" tradiert. Den deutschen Massenwohlstand zu steigern, lautet die hanebüchene These, sei "letztlich die entscheidende Triebkraft der Verbrechen gewesen". Hitlers Selbstmord tief unter der Erde, behauptet Fuhr ernsthaft, mahne uns, die Sozialstaatlichkeit zu reduzieren. Sonst landeten wir noch alle im Bunker. Rolf Helfert

Eckard Fuhr: "Wo wir uns finden - Die Berliner Republik als Vaterland", Berlin Verlag, Berlin 2005, 157 Seiten, 18 Euro
 
     
     
 
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