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Meine Großeltern waren im August 1944 beide 65 Jahre alt, als sie ihre Sechs-Zimmer-Wohnung im Zentrum von Königsberg durch den schlimmsten anglo-amerikanischen Luftangriff auf die ostdeutsche Hauptstadt in einer Nacht verloren. Tage später suchten mein Großvater und andere Hauseinwohner in den Trümmern nach Überresten, doch die getroffenen Gebäude wurden aus Sicherheitsgründen abgesperrt. Ich besitze heute nur noch einige Kuchengabeln und Löffel aus der Königsberger Asche.
Weihnachten 1944 versammelten wir uns alle unter einem kleinen Tannenbaum in der Wohnung meiner Eltern vor der Stadt. Meine Großmutter hatte mir wollene lange Strümpfe gestrickt, die ich nicht tragen wollte, weil sie mich schreck-lich kratzten. Die Stadt war seit November 1944 von drei sowjetisch en Armeeteilen eingeschlossen, hinaus kam man nur noch über die See.
Im Februar 1945 hatten viele Einwohner die Festung Königsberg bereits verlassen und waren in Richtung Westen geflüchtet. Nach langen Beratungen hatte sich auch unsere Familie entschlossen, fortzugehen, manche in dem Glauben, bald wieder zurückzukehren. Meine beiden Großeltern Albert und Elisa, meine Mutter Olga, ihre Schwester Gertrud, meine Tante, mein jüngerer Bruder Hans-Joachim, der ein Jahr und zwei Monate alt war, bestiegen am Morgen des 23. Februar 1945 um 4 Uhr 30 in der Frühe ein Schnellboot mit dem Namen "Greif", das uns und noch viele andere nach Danzig-Neufahrwasser brachte. An der Bordwand konnte ich das Knirschen und Krachen des Eises hören.
Mein Großvater hatte Tage vorher noch ein Schwein geschlachtet, das ihm sein Bruder Wilhelm gebracht hatte. Alles, was wir davon mitnehmen konnten, war der Schmalztopf, der zusammen mit anderen unentbehrlichen Dingen im Kinderwagen meines kleinen Bruders verstaut wurde. Der gerade Einjährige schaukelte gut verpackt auf einer Ladung letzter Habseligkeiten, die sorgfältig Tage vorher ausgewählt werden mußten. Meine Tante hatte noch am Abend vor dem Fortgang allen Ernstes vorgeschlagen, bei unserem Küchenherd den Gashahn aufzudrehen. Auch die Großeltern lehnten das ab. Auf der Überfahrt von Swinemünde nach Kopenhagen war Hans-Joachim sterbenskrank. Meine Großmutter rieb seinen kleinen mageren Körper mehrmals mit dem zerlassenen Fett aus jenem Schmalztopf ein, wohl auch, um ihn warm zu halten.
In Kopenhagen mußten Hunderte von ostdeutschen Flüchtlingen zunächst in Schulen warten, bis sie in anderen Teilen Dänemarks untergebracht werden konnten. Ich sehe noch heute das Bild vor mir, wie eine dunkel gekleidete dänische Frau in jener Schule von vielen Kindern bedrängt wurde, als sie aus einer großen weißen Tüte Kuchen an sie verteilte.
Wir sechs konnten zusammenbleiben und lebten bis August 1945 in Ollerup auf der Insel Fünen, bis wir als deutsche Zivilisten von den Engländern im Norden Jütlands interniert wurden. Noch im strengen Winter 45/46 hat uns der Schmalztopf das Leben gerettet, denn die Banknoten der Reichsmark waren nicht mehr viel wert. Vermutlich hat unsere Großmutter meinem Bruder mit jenem Schmalztopf das Leben erhalten können, jedenfalls ist der Schmalztopf in unserer Familie zur Legende geworden. Meine Mutter, mein Bruder und ich konnten im Juni 1947 nach Deutschland zurück-kehren, wo unser Vater auf uns wartete und Kartoffeln mit frischen Zwiebeln als erste Mahlzeit auf dem Tisch stande |
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