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Liberale entdecken die ostdeutsche Kultur

 
     
 
Man muß dabei gewesen sein, um es zu glauben, daß nach jahrelanger Distanz zu den "ewiggestrigen" Vertriebenen mit ihren "berufsvertrieblichen Funktionären" plötzlich die FDP ganz unerwartet und darum umso erfreulicher wieder den Kontakt zu dem Teil unseres Volkes sucht, der nach 1945 aus Schlesien und Hinterpommern, aus Ostbrandenburg, aus dem Wartheland, aus West- und Ostdeutschland, aus der Untersteiermark sowie aus dem Sudetenland vertrieben wurde und – seit dem sogenannten 2+4-Vertrag von 1990 vom politischen Leben und vom Medienbetrieb ausgegrenzt – ein Schattendasein fristet. Zeichnen sich jetzt neue Perspektiven ab, möglicherweise wegen der EU-Osterweiterung
, oder wegen der Bundestagswahl im nächsten Jahr?

Am 28. Mai jedenfalls wurden die Vertreter der namhaftesten ostdeutschen Stiftungen und Verbände vom Vorsitzenden der FDP-Fraktion Wolfgang Gerhardt und vom kultur- und medienpolitischen Sprecher der FDP-Fraktion, Hans-Joachim Otto, zu einem Colloquium über die "Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen in Deutschland und Osteuropa" eingeladen. Nahezu alles, was Rang und Namen hatte, war gekommen; so die Vorsitzenden des Ostdeutschen Kulturrates (OKR) und der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, ferner die Generalsekretärin des Bundes der Vertriebenen (BdV) und die Geschäftsführer des Göttinger Arbeits- kreises, des Danziger Archivs, des Ostdeutschen Landesmuseums in Lüneburg und der Ost- und Westpreußenstiftung (OWS) in Oberschleißheim. Auch der Beauftragte für Kultur und Medien beim Kanzleramt (BKM), der Freistaat Bayern, das vor kurzem gegründete Kulturforum für das östliche Europa in Potsdam, das Herderinstitut und der Deutsche Kulturrat, um von etwa 20 Institutionen nur einige zu nennen, waren vertreten.

Der FPD-Abgeordnete Otto stellte einleitend fest, daß die gegenwärtige Bundesregierung die Chance für eine grundlegende Neuorganisation und Neuorientierung der Pflege und Erhaltung deutscher Kulturgüter in den Vertreibungsgebieten vertan habe; sie habe nämlich bewährte Strukturen zerschlagen, aber keine neuen geschaffen. Die FDP fordere daher für die Zukunft ein klares Konzept, das nicht nur die Interessen der Vertriebenen berücksichtige, sondern auch zweiseitige Projekte zwischen Deutschland und den mittelosteuropäischen Staaten tatkräftig fördere.

Das sei aber nicht nur eine Aufgabe der Vertriebenen, sondern eine des ganzen Volkes, denn Kultur sei der erfolgreichste Weg, um Brücken zwischen Völkern zu bauen, gerade auch für die Jugend. Den Vertriebenenverbänden komme dabei die immens wichtige Aufgabe zu, dieses Wissen zu vermitteln, denn sie seien besonders in der Lage, das kulturelle Erbe des deutschen Ostens lebendig, authentisch zu vermitteln. Wenn der gegenwärtig auf 34 Millionen Mark geschrumpfte Etat für die Förderung von Kulturarbeit nach Paragraph 96 Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz (BVFG) in Zukunft zwar auch nicht mehr auf die alte Höhe von 48 Millionen DM gebracht werden könne, so müßte er im Zuge einer Neuformulierung des Paragraph 96 BVFG doch erheblich aufgestockt werden, um angesichts der EU-Osterweiterung in der Jugendarbeit, Wissenschafts- und grenzüberschreitenden Kulturarbeit zu sichtbaren, überzeugenden Erfolgen zu kommen.

Da die FDP nach jahrelanger Abstinenz jetzt anscheinend einen gewaltigen Lernbedarf bei der Einschätzung ostdeutscher Kulturförderung hat, erhielten zunächst die Vertreter der wichtigsten Stiftungen und Institutionen das Wort. So sprach sich Professor Norbert Conrads vom Historischen Institut der Stuttgarter Universität für neue Stiftungsprofessuren über "Alt-Ostdeutschland" aus, weil nur dadurch die schwindenden Kenntnisse der aussterbenden Erlebnisgeneration auszugleichen seien und zugleich die Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Wissenschaftlern erfolgreich sein könne. Diesen Ansatz fortführend berichtete Hans Werner Rautenberg vom Herder-Institut in Marburg/Lahn über die seit 1990 von Polen "neu entdeckte" deutsche Minderheit in den alten deutschen Ostgebieten, die es noch 1985 offiziell "nicht gegeben hatte". Dank der Bemühungen von Persönlichkeiten wie Bischof Nossol in Oppeln und anderer blühe das deutsche Vereinsleben dort jetzt wieder auf und statt der bisherigen Parole "heim ins Reich" – also der Abwanderung nach Deutschland westlich von Oder und Neiße – gelte jetzt die Devise "reich ins Heim", also die Schaffung eines auskömmlichen Wohlstands bei Pflege der eigenen Kultur in der ostdeutschen Heimat.

Die deutschen Organisationsstrukturen in den Oder-Neiße-Gebieten hätten sich erfreulicherweise im demokratischen Polen, trotz der Abwanderung vieler Landsleute, zwar zunächst verstärkt, doch drohe jetzt ein rasanter Sprach- und Kulturverfall durch "Wohlstandsassimilation", dem zu begegnen unser aller Aufgabe sei.

Prof. Eberhard Günter Schulz, Präsident des OKR in Bonn und zugleich des Kulturwerks Schlesien in Würzburg, wies überzeugend nach, daß der Hauptfehler der seit 1999 betriebenen Kulturpolitik im Bereich des Paragraph 96 BVFG darin liege, daß zugunsten einer angeblich früher nicht betriebenen Verwissenschaftlichung und Musealisierung wider alle sachlichen Argumente das reich gefächerte, überaus lebendige Kulturwerk der Vertriebenen zerschlagen, stillgelegt oder derart reduziert worden sei, daß es in seinen Resten heute regelrecht ghettoisiert sei. Wirklich sinnvolle Bildungspolitik nach dem BVFG könne aber gar nicht breit und intensiv genug betrieben werden, da nur so eine allgemeine Bewußtseinsbildung zu bewirken sei. Darüber hinaus könne man eben nicht so leicht, so wie auch von der FDP angestrebt, mit den östlichen Vertreiberstaaten ein ähnlich gutes Verhältnis herstellen wie mit Dänemark und Frankreich nach 1945, weil es dort eben keine Massenvertreibung, keinen Genozid gegeben habe wie in den deutschen Ostgebieten von 1945 bis 1949; wohlgemerkt also nach Kriegsschluß.

Reinhold Schleifenbaum, Vorsitzender der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Bonn, sprach sich ebenfalls deutlich gegen die seit 1999 betriebene Etatisierung, Zentralisierung und Uniformierung ostdeutscher Kulturarbeit aus. Diese ideologisch motivierte Kulturpflege müsse aufgehoben werden zugunsten einer breiten, föderalen und vielfältigen Kulturarbeit. Mithin sei eine Revision der nach wie vor betriebenen Naumannschen BVFG-Politik durch dessen Nachfolger, Bundeskulturstaatsminister (BKM) Nida-Rümelin, unerläßlich.

Von allen Tagungsteilnehmern wurde überzeugend nachgewiesen, daß nicht die Einsparungen, sondern die von Nichtkenntnis, ostentativer Ablehnung und Ideologie getragene Politik des BKM zum Teil unwiederbringliche Verluste angerichtet habe. Schon sprachlich sei ihr, so Walter Rösner-Kraus für Bayern, der Boden entzogen worden, da der kurze, aber umfassende Begriff "ostdeutsche Kulturarbeit" jetzt offiziell nicht mehr verwendet werden solle; außerdem müsse man sich die geradezu lächerlich geringen Mittel von Berlin und den Ländern von insgesamt 34 Millionen Mark für die ostdeutsche Kulturarbeit vor Augen halten, während beispielsweise die Stadt München jährlich 294 Millionen für Kulturförderung ausgebe. Bayern habe seine Ostdeutsche Kulturarbeit nicht verkleinert, sondern baue sie – auch wegen Kürzungen des BKM im Bereich der Institutionenförderung – aus.

Des weiteren wurde ausgeführt, daß auch die Lehrpläne und die Lehrmittel an den Schulen ("alte Schwarz-Weiß-Filme kommen heute nicht mehr an") in viel stärkerem Maße als bisher für ostdeutsche Themen wieder ausgeweitet und modernisiert werden müßten, um Breitenwirkung bei Jugendlichen zu erzielen. Diesem Argument pflichtete auch die Generalsekretärin des BdV, Michaela Hriberski, bei, die die mangelnde Verankerung ostdeutscher Kulturpflege in den Ländern und deren Musealisierung und Verwissenschaftlichung insgesamt als zu schmal beklagte. Auch Alfred Eisfeld, Geschäftsführer des Göttinger Arbeitskreises, wies schlüssig nach, daß bei vermehrten Forschungs- und Integrationsaufgaben für die Rußlanddeutschen angesichts der jetzt freien Betätigungsmöglichkeit in Rußland und in der Ukraine die Basis auch seines Instituts durch die erfolgten Kürzungen unverantwortlich klein geworden sei. Man mache sich leider beim BKM keinen Begriff davon, welch wertvolles Potential die Rußlanddeutschen als Brückenbauer zwischen dem heutigen Rußland und Deutschland bildeten. Hinzu käme, daß gerade in Rußland das Interesse am Wirken der Rußlanddeutschen für die Entstehung der russischen Kultur und Wirtschaft rasant im Ansteigen begriffen sei, während kontrovers dazu sein Institut mit immer weniger Wissenschaftlern auskommen müsse. Auch Ronny Kabus, Leiter des Ostdeutschen Landesmuseums Lüneburg, votierte dafür, das Nischendasein ostdeutscher Kulturarbeit zu verlassen.

Den größeren Zusammenhang des Colloquiums wieder aufnehmend sprach sich der Verfasser dieser Zeilen schließlich dafür aus, bei der künftigen ostdeutschen Kulturpflege nicht nur den finanziellen Aspekt zu sehen, sondern die politische Dimension wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Denn Vertreibung finde heute wieder statt, Vertreibung dürfe sich aber nicht mehr lohnen, die Ostdeutschen seien jedoch aus dem allgemeinen deutschen und internationalen Bewußtsein und speziell aus unserer Politik und den Medien ein "zweites Mal" vertrieben worden. Die Behandlung der Vertriebenenverbände durch das BKM sei mit kaltem Blick und kaltem Herz erfolgt, so als ob sie an der Vertreibung selber schuld gewesen seien. Daß die deutschen Vertriebenenorganisationen aber gerade in den Oder-Neiße-Gebieten hochgeschätzte Partner der Polen geworden seien, könne jeder der hier versammelten Vertreter bestätigen, weil unsere dort stattfindenden grenzüberschreitenden Veranstaltungen von allergrößtem Interesse der dortigen Medien und Teilnehmer immer wieder begleitet seien; mithin fühle man sich dort oft besser aufgehoben als in unserer eigenen Gesellschaft. Nicht der Osten, wir im Westen hätten einen geistigen Nachholbedarf. Es ginge letztlich um ein großes Humanum europäischer Politik, indem den Vertriebenen nämlich wieder die Ehre und Würde zurückgegeben werden müsse, die ihnen als "Revanchisten" genommen worden sei.

Der medienpolitische Sprecher der FDP, Hans-Joachim Otto, bedankte sich für das auf hohem Niveau durchgeführte Colloquium, das sehr viel inhaltsreicher und konstruktiver verlaufen sei als die Reichstagsanhörung durch Staatsminister Naumann im Jahre 1999. Die Kurzreferate und Stellungnahmen der Teilnehmer, die sämtlich auf Tonband aufgenommen worden seien, würden in die Politik seiner liberalen Partei einfließen und sich hoffentlich in einer besseren Kulturpolitik ab dem Jahre 2002 niederschlagen.

Versprach den Vertriebenen eine bessere Kulturpolitik ab dem Wahljahr 2002: Hans-Joachim Otto, Medienpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion.

 
     
     
 
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