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Aus der Sicht von Kanzler Schröder und Joschka Fischer ist die Türkei ein potentieller EU-Beitrittskandidat. Kritiker, die das Land am Bosporus für nicht EU-tauglich halten, stoßen bei der Bundesregierung auf taube Ohren. Vor allem beim Minderheitenschutz attestieren sie dem islamischen Land absolute Defizite und insbesondere eine fehlende Bereitschaft zur Behebung dieser. Wie in der Türkei mit nicht islamischen Religionsgemeinschaften umgegangen wird, berichtet an dieser Stelle ein in der Türkei tätiger deutscher Pfarrer*.
Wer aus Deutschland nach Istanbul reist, weniger, um dort Urlaub zu machen, sondern vielmehr, um dort zu leben, kommt aus dem Staunen nicht heraus. 13 bis 15 Millionen Menschen soll es in dieser Metropole geben, jedes Jahr kommen 300.000 Menschen hinzu, die Einwohnerzahl einer deutschen Großstadt. Und obwohl man ständig von Menschenmassen umgeben und einem Höllenlärm durch hupende Autos ausgesetzt ist, funktioniert diese hinreißende Stadt. Es gibt Strom und Wasser, meistens jedenfalls, die Müllabfuhr kommt regelmäßig, der öffentliche Nahverkehr transportiert mit einem benutzerfreundlichen System seine Fahrgäste, und wenn man dann an einem lauen Sommerabend in einem Teehaus am Bosporus sitzt, möchte man in keiner anderen Stadt der Welt leben.
Wenn es dann nicht doch auch die rauhe Wirklichkeit gäbe. Zu dieser Wirklichkeit gehört die oft schwierige Situation der Minderheiten in der Türkei. Offiziell sind sie nicht vorgesehen, die Verfassung der türkischen Republik nennt sie nicht, dennoch gibt es sie; die Christen, Juden, Kurden und Aleviten, wobei die beiden letzteren nach Millionen zählenden Gruppen allein, was ihre Zahl angeht, ja keine Minderheiten im eigentlichen Sinn sind.
Die Christenheit in der Türkei besteht heute aus etwa 150.000 Menschen, das entspricht 0,3 Prozent der Bevölkerung. Vor gut 100 Jahren waren, allerdings bei einer wesentlich geringeren Bevölkerungszahl, etwa 20 Prozent der Untertanen des osmanischen Reiches auf dem Gebiet der heutigen Türkei christlicher Konfession. Die Vertreibung und Ermordung Hunderttausender von Armeniern, die Umsiedlung und Vertreibung der Griechen aus Anatolien und später aus Istanbul, schließlich auch der Wegzug vieler syrisch-orthodoxer Christen aus der Südosttürkei nach Westeuropa im Zuge der Anwerbung von Gastarbeitern haben dazu geführt, daß die Christenheit als relevante Bevölkerungsgruppe praktisch nicht mehr existiert.
Sucht man in dieser Minderheit noch einmal nach Minderheiten, trifft man auf die Auslandsgemeinden, etwa auf die "Evangelische Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei", die neben der deutschen katholischen und der österreichischen Gemeinde eine der drei deutschsprachigen Gemeinden in der Türkei ist.
Von evangelischen Kaufleuten 1843 gegründet, gehört die "Deutsche evangelische Gemeinde" heute zu den ältesten deutschen kulturellen Einrichtungen in der Türkei. Schon bald nach der Gemeindegründung entstanden ein Asyl, das spätere Deutsche Krankenhaus, eine Schule (heute Pfarrwohnung) und schließlich eine Kirche, die auch heute noch als Gottesdienststätte dient. Bis 1918 war die Kirche Gesandtschaftskapelle der Botschaft des Deutschen Reiches, danach wurde sie Frankreich übergeben. In den 20er Jahren sammelte sich die Gemeinde neu. Nach dem Zweiten Weltkrieg mußten die Deutschen Istanbul verlassen oder wurden interniert. Die Kirche kam unter den Schutz der Schweiz.
Zu Beginn der 50er Jahre sammelte sich erneut eine Gemeinde aus deutschen, Schweizer und österreichischen Protestanten. Damals bestand die Gemeinde wie auch in den Jahrzehnten vorher im wesentlichen aus Menschen, die ihr ganzes Leben in der Türkei verbrachten, noch heute etwas spöttisch auch "Bosporusdeutsche" genannt. Ihre Zahl ist seit Jahrzehnten stark rückläufig, vor allem deshalb, weil nach den Bestimmungen eines bis heute gültigen Gesetzes aus dem Jahr 1937 unter anderem folgende Berufe von Ausländern in der Türkei nicht ausgeübt werden dürfen: Handwerker, Kellner, Ingenieur, Facharbeiter, Rechtsanwalt, Arzt, Apotheker und Krankenschwester (ausgenommen Ordensschwestern).
Heute besteht die Gemeinde zum einen aus den "Entsandten" und ihren Familien, also aus Diplomaten, Lehrerinnen und Lehrern und Vertretern deutscher oder internationaler Firmen. Zum anderen gehören zur Gemeinde deutsche Frauen, die mit türkischen Männern verheiratet sind. Deutsche Männer, die mit Türkinnen verheiratet sind, gibt es aufgrund des oben genannten Arbeitsverbotes kaum. Wie viele Deutsche in der Türkei genau wohnen, weiß man nicht, da es bei den diplomatischen Vertretungen keine Meldepflicht für deutsche Staatsbürger gibt und die Kirchen keine Meldedaten erhalten. Schätzungsweise leben heute in der Türkei etwa 50.000 Deutsche.
Wie in allen evangelischen Auslandsgemeinden wird der Pfarrer von der gesamten Gemeinde gewählt. Zur Gemeinde gehört man dann, wenn man sich in das Gemeindeverzeichnis hat eintragen lassen. Das heißt, nach einer Umsiedlung von Deutschland in die Türkei gehört man, anders als bei einem innerdeutschen Umzug, nicht automatisch einer neuen Gemeinde an. Auch erlischt die Kirchensteuerpflicht. Die Gemeinde muß nun in der Regel durch mehr oder weniger zufällige Kontakte herausfinden, wer evangelisch ist, und diese Person dann bitten, der Gemeinde beizutreten und auch einen Gemeindebeitrag zu bezahlen. Von diesem Beitrag wird ein großer Teil der Gemeindeaktivitäten bezahlt, zum Beispiel auch das Pfarrergehalt. Neben den Gemeindebeiträgen sind es darüber hinaus die finanziellen Zuwendungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die die kirchliche Arbeit in der Türkei ermöglichen.
Zur deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in der Türkei gehören zur Zeit etwa 200 Mitglieder, wenig im Blick auf die Gesamtzahl der Deutschen in der Türkei. Allerdings treten viele mit Türken verheiratete Frauen aus Rücksicht auf ihre moslemischen Ehemänner nicht der Gemeinde bei, andere potentielle Mitglieder behalten aus unterschiedlichen Gründen ihren Wohnsitz in Deutschland und bleiben somit auch Mitglieder ihrer dortigen Gemeinden, auch wenn sie am Gemeindeleben in Istanbul teilnehmen.
Im Vergleich zu einer Gemeinde in Deutschland ist die Zahl der Gemeindemitglieder in der Türkei sehr klein, wobei die Zahl derer, die etwas von der Gemeinde erwartet, jedoch wesentlich größter ist. Erschwerend kommt hinzu, daß diese Gemeinde über das Gebiet der gesamten Türkei verstreut lebt, mit Schwerpunkten in Istanbul, Ankara und Izmir, immerhin auf einem Gebiet, das doppelt so groß ist wie Deutschland.
Zurück zum Pfarrer. Sind alle Wahlzettel aus dem ganzen Land ausgezählt und hat die Gemeinde ihren neuen Pfarrer gewählt, beginnen für ihn die ersten Schwierigkeiten. Er kann nämlich nicht einfach mit seiner Familie in die Türkei einreisen und mit der Arbeit beginnen, denn zu den für Ausländer verbotenen Berufen gehört auch der des Pfarrers. Also reist er offiziell als Mitarbeiter des Generalkonsulats der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei ein, hat also quasi Diplomatenstatus. Mag diese Lösung für ihn noch irgendwie akzeptabel sein, schwierig wird es, wenn die Gemeinde noch weitere Mitarbeiter einstellen möchte. Hier baut das geltende türkische Gesetz neue Blockaden.
Zwar kennt es das individuelle Recht auf Religionsfreiheit, jedem moslemischen Türken ist es also unbenommen, sich taufen zu lassen, allerdings gilt diese Recht nicht für die Kirchen als solche. Sie sind, anders als in Deutschland, keine wie auch immer gearteten Körperschaften des Öffentlichen Rechts und können daher auch keine Aufenthaltsberechtigungen für ihre Mitarbeiter beantragen, so wie das etwa jede Autofirma kann. So muß denn unser Vikar alle drei Monate die Türkei verlassen und erneut mit einem Touristenvisum einreisen, ein unsinniger ökonomischer und personeller Aufwand, erst recht, wenn man bedenkt, daß ständig mehr als 500 Imame aus der Türkei in Deutschland arbeiten können.
Ist der Pfarrer in Istanbul endlich glücklich angekommen und in sein Pfarrhaus im Stadtteil Beyoglu eingezogen, fällt ihm auf, daß er gar nicht inmitten seiner Gemeinde wohnt. Die nämlich wohnt weit überwiegend in anderen Quartieren, wo es ruhiger und sauberer ist. Früher wohnten hier viele Christen, vor allem Griechen. Die aber sind alle weg, Bauern aus Anatolien sind nachgerückt. Vielleicht sollte die Kirche wieder zu den Menschen ziehen, für die sie da ist. Das aber ist aufgrund der türkischen Gesetze fast unmöglich. Seit den Verträgen von Lausanne aus dem Jahre 1924 dürfen die religiösen Einrichtungen in der Türkei, und das gilt eigentlich auch für die islamischen Einrichtungen, keine neuen Gebäude mehr errichten. Daß dieses Gesetz nur noch auf die christlichen Gemeinden, nicht aber auf die Genehmigung neuer Moscheebauten angewendet wird, steht dabei auf einem anderen Blatt.
Nun hat das türkische Parlament im August 2002 im Hinblick auf die Erwartungen der Europäischen Union beschlossen, daß die Minderheiten, sprich in diesem Zusammenhang die Kirchen, in Zukunft Eigentum erwerben und veräußern dürfen. Allerdings unter zwei Bedingungen: Erstens muß einem solchen Ersuchen jeweils der Ministerrat der Türkei zustimmen, zweitens müssen die Gemeinden ihren gesamten Immobilienbesitz melden. Hier gilt es nun erneut eine Hürde zu nehmen. Da die Kirchen in den zurückliegenden Jahrzehnten kein Eigentum erwerben durften, haben dies oft Gemeindemitglieder im Auftrag ihrer Kirchenvorstände gemacht. Die Kirchen haben bezahlt, der Grundbucheintrag lautete jedoch auf einen Privatnamen. Juristisch ist dies zwar unzulässig, anders wußte man sich aber nicht zu helfen. Soll man also Eigentum, das auf diese Weise erworben wurde, melden oder besser nicht? Beteiligt man sich hier vielleicht an einer groß angelegten zukünftigen Enteignungsaktion? Beispiele für Enteignungen kirchlichen Eigentums in den letzten Jahren gibt es zuhauf. Dabei hat es vor allem die katholische Kirche getroffen, die dadurch wertvolle Grundstücke am Bosporus verloren hat.
Da alle Immobilien von Stiftungen verwaltet werden müssen, ergeben sich für die Gemeinden auch große Schwierigkeiten, wenn sie nicht mehr genügend Gemeindemitglieder haben, die sie in die Stiftungen entsenden können. Außerdem hat der Staat das Recht, alle ihm nicht genehmen Vorschläge bei der Besetzung eines frei gewordenen Sitzes in einer Stiftung abzulehnen, so lange, bis schließlich einer Gemeinde personell "die Luft ausgeht". Da dann diese Kirchengemeinde offiziell nicht mehr in der Lage ist, ihren Besitz gemäß den staatlichen Vorschriften zu verwalten, fällt die entsprechende Immobilie an das "Volk", sprich an den Staat. Im übrigen muß auch sämtlicher übriger Besitz der Kirchen, etwa Schulen und Krankenhäuser, in Stiftungen organisiert sein. Diesen Stiftungen erlaubt der Staat nun nicht, miteinander Kontakt aufzunehmen, um etwa gemeinsam ihre Finanzen zu planen und Überschüsse und Verluste untereinander auszugleichen. Auf diese Weise werden finanzschwache Stiftungen bewußt in die Pleite getrieben.
Dabei brauchen die Gemeinden in der Türkei dringend Kirchen, Gemeindehäuser, Kindergärten und Schulen, um ihren Glauben praktizieren zu können. Nun wird von offizieller türkischer Seite immer wieder darauf hingewiesen, daß es zumindest in Istanbul genügend Kirchen für die Christen gebe. Dies stimmt zwar statistisch, aber nicht faktisch. Die meisten Kirchen in der Stadt gehören nämlich den Griechen. Diese können die Gotteshäuser längst nicht mehr alle nutzen, könnten also einige Kirchengebäude etwa an die syrisch-orthodoxe Kirche abgeben, die keine Kirchen in der Stadt besitzt, aber etwa 12.000 Gemeindemitglieder hat. Dies ist aber nach den geltenden Gesetzen verboten. Eine griechische Kirche darf eben nur eine griechische und keine syrisch-orthodoxe Kirche sein.
Der Name des Pfarrers ist der Redaktion bekannt. Aus Angst vor Beeinträchtigungen in der Ausübung seines Berufes durch die türkischen Behörden hat er um die Wahrung seiner Anonymität gebeten.
Von Einschränkungen umgeben: Nichtislamische Religionsgemeinschaften in der Türkei |
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