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Frühere, übermalte Kulturschichten - sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn - dringen sie nicht immer an die Oberfläche? Läßt sich sowohl das neue Bild erhalten wie auch dasjenige, das durch die obere Schicht hindurchscheint? Zum Glück gibt es im menschlichen Zusammenleben keine konservatorischen Nöte. Die Pflege einer früheren und fremden Kulturschicht zeugt vom Können des Erbens, was nach Thomas Mann das Wesen von Kultur darstellt.
Im Rahmen der Seminartage des Europäischen Bildungswerks Hessen e. V. trat in Allenstein die Historikerin Dr. Ewa Gladkowska zum Thema "Gemeinsames deutsch-polnisches Erbe als europäische Aufgabe" vor die Seminarteilnehmer aus der Bundesrepublik Deutschland. Sie hatte das gemeinsame Erbe der Kunst für ihren Beitrag gewählt.
Obwohl Helmut Kowalewski aus Linsengericht den Vortrag hervorragend aus dem Polnischen übersetzt und den Teilnehmern vorgelegt hatte, traute sich die Referentin und glänzte in deutscher Sprache. Als Einstieg ins Thema brachte Gladkowska das Beispiel: "Die alte Schicht, Gewähr einer Tradition, weckt Vertrauen. Die deutsche Aufschrift ,Kolonialwaren wird überdeckt durch das polnische ,Delikatesy . Die durchschimmernde alte Bezeichnung beglaubigt das heutige Geschäft."
Spannend ist die Situation, wie man mit dem kulturellen Erbe in der Republik Polen in den letzten Jahrzehnten umging. Gladkowska betonte, daß Besitz und Nichtbesitz der Heimat zwei Grunderfahrungen der Wirklichkeit seien. "Man muß Wurzeln haben und Flügel. Und man muß es verstehen, sie zu verbinden", sagte sie.
Eingehend auf die 1990 in Allenstein entstandene Kulturgemeinschaft Borussia, wird auf die Notwendigkeit eines offenen Regionalismus hingewiesen, dessen Fehlen zu Feindschaft führen kann.
Die offizielle Kulturpolitik in der Region war von starken Reaktionen gegenüber der deutschen Vergangenheit geprägt. Die neuen Bewohner wollten von der Vergangenheit nichts hören, also gab es auch über die Kultur nichts zu reden, soweit es Deutsches betraf.
Die schon vor 15 Jahren gestellte Frage der Kulturgemeinschaft war: "Können wir uns eine echte Integration und Identität in der Region leisten, ein bewußtes Erleben der kulturhistorischen Landschaft?"
Gladkowska informiert darüber, daß es vor 30 Jahren niemandem in den Sinn kam, nach der Vergangenheit ihres Gymnasiums zu fragen, in dem bis heute das Adam-Mickiewicz-Lyzeum 1 untergebracht ist. Immerhin war es bereits 1877 als königliches Gymnasium gegründet worden. Keiner sagte damals, daß in der Aula das berühmte Werk von Heinrich Gärtner hängt - "Iphigenie auf Tauris". Eine erste offizielle Schenkung im Leben der Stadt Allenstein. 1894 feierlich aufgehängt, überdauerte es die Zeit. Man bemühte sich, Zeichen der fremden Kultur nicht wahrzunehmen. Heute ist das anders geworden.
Schon 2003, bei der 650-Jahrfeier der Stadt, konnte man Ansichtskarten von Allenstein aus der Vorkriegszeit betrachten. Vieles auf den Darstellungen existiert nicht mehr, wurde vom großen Feuer im Februar 1945 vernichtet, das die Rote Armee entfachte.
Kunsthistoriker übernehmen heute die Rolle des Übersetzers der Sprache einer fremden Kultur und der Vergangenheit in die Gegenwart. Inzwischen werden viele historische Gebäude rekonstruiert oder restauriert, wie zum Beispiel das Innere der Mikwe (Ritualbad), ein erstes Werk des Allensteiner Architekten und Sohnes der Stadt Erich Mendelsohn.
"Es bleibt zu hoffen, daß es in diesem Teil Europas kein Verwischen und kein Zerstören von Denkmälern fremder Kultur mehr geben wird, gemäß den Kunsthistorikern ein Akt von Unaufgeklärtheit", betonte die Referentin.
Allenstein und seine Umgebung inspirierte auch die nach dem Krieg hierher zugezogenen Künstler. Einigen von ihnen ist es sogar gelungen, eine Synthese der Multikultur dieses Raumes darzustellen, möglicherweise unbewußt, wie es der Nestor der Allensteiner Maler Hieronim Skurpski über sein Bild "Wachendes Lichtchen" sagt. Im Vordergrund dieses Bildes ist ein altprußisches Motiv als Hinweis auf die Zeit der Prußen in diesem Landstrich.
"Der Grundsatz, nach einer intensiveren Erinnerungskultur gegenüber einem uns nahen Ort zu suchen, ist heute ein Thema häufiger Überlegungen", so Gladkowska.
Bei einem Rundgang durch die Stadt wird das Gehörte präsent und die Gewißheit gestärkt, daß es in der kulturellen Szene eine Aufarbeitung gibt, die Deutsche und Polen in diesem Bereich zu einer gemeinsamen Meinung animiert. Über die Pflege des gemeinsamen kulturellen Erbes und die Diskussion über eine lokale Identität, lohnt es sich nachzudenken.
Je mehr die Welt zusammenschrumpft, um so größer ist das Bedürfnis nach einer ganz nahen lokalen Identität. Dabei wächst die Lust vieler Menschen, sich in einem nahen und gut bekannten Raum einzuschließen - der Heimat oder der Familie.
Man muß eben Wurzeln haben und Flügel, und es verstehen, sie zu verbinden!
Hartmut Saenger und Dr. Ewa Gladkowska: Der Seminarleiter vom Europäischen Bildungswerk Hessen dankt der Referentin für ihren in Deutsch gehaltenen Beitrag. |
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