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Nordenburg, Kreis Gerdauen Keiner kennt sie, niemand mag sie, überall auf dieser Welt gibt es sie. Ihre Existenz wird nur allzuoft verleugnet: Die Rede ist von geistig behinderten Kindern. Doch wie man in der westlichen Gesellschaft mit ihnen umgeht, wieviel Zuwendung und professionelle Hilfe ihnen in Westeuropa zuteil wird, davon mag man im nördlichen Ostdeutschland noch nicht einmal träumen.
Bisweilen verleugnet man schlichtweg die Existenz dieser Kinder, selbst auf Nachfrage bei sogenannten Experten des Sozialwesens und der Jugendhilfe konnte oder, besser gesagt, wollte uns keiner sagen, wo diese Kinder im nördlichen Ostdeutschland untergebracht sind. Doch wir hatten jetzt Gelegenheit, auf Einladung der Direktion des, so der offizielle Name, Kinderheims Nordenburg diese Einrichtung zu besuchen. Was wir dort sahen, erinnerte uns irgendwie an die Fernsehbilder von rumänischen Kinderheimen.
Zwar waren alle Zimmer und Flure relativ sauber, was aber auch daran gelegen haben kann, daß unser Besuch angekündigt war. Aber der Zustand der Kinder konnte den unbefangenen Besucher schon sehr erschrecken. 150 Kinder im Alter von vier bis sechzehn Jahren, die alle zu 100 Prozent geistig behindert sein sollen, befinden sich in dieser Einrichtung. Davon sind allein 44 ständig ans Bett gefesselt. Im wörtlichen Sinne sind von ihnen tatsächlich einige ans Bett gebunden, oder sie sitzen den ganzen Tag in eine Zwangsjacke gehüllt in ihrem Bett. Wohlgemerkt, es handelt sich hier um Kinder aller Altersklassen, die so ihr Dasein fristen müssen. Obwohl 112 Mitarbeiter in dieser Gebietseinrichtung beschäftigt sind, sieht man sich nicht in der Lage, anders mit den Kindern umzugehen, als sie den lieben langen Tag, und dies wahrscheinlich über die gesamte Lebenszeit dieser armen Kreaturen, im Bett zu belassen. Alle anderen Kinder, die man nicht für gefährdet oder gefährlich hält, begegneten uns in zwei Aufenthaltsräumen, in denen sie nach Geschlechtern getrennt vor laufenden Fernsehern saßen.
Von pädagogisch oder psychologisch geschulten Mitarbeitern weit und breit keine Spur, nur zwei Krankenschwestern und die Direktorin begleiteten uns auf dem Weg durch die Gebäude, außer dem haustechnischen Personal konnten wir in drei Schlafräumen und den besagten zwei Fernsehzimmern nur eine einzige Mitarbeiterin sehen, die eine Gruppe von kleinen Kindern beaufsichtigte. Die unerträglichen Zustände von Küche, Sanitärräumen, hauseigener Wäscherei rundeten das traurige Bild, welchem wir dort begegnet waren, vollends ab.
Doch wer hilft diesen Kindern? Die Gebietsverwaltung oder gar der russische Staat sieht sich wohl nicht in der Lage, dem Haus zumindest eine anständige finanzielle Grundlage zu verschaffen, damit ein menschenwürdigeres Leben für diese Kinder ermöglicht werden kann. Wie uns die Leitung des Hauses erklärte, zahlt die Gebietsverwaltung nur die Löhne der Mitarbeiter und pro Monat etwa 400 Mark für Medikamente und Ersatzteile, die irgendwo in der Einrichtung gebraucht werden. Die Ernährung der Kinder wird aus deren monatlicher Invalidenrente finanziert, wobei 25 Prozent der Rente nach russischen Gesetzen noch auf ein Sparbuch gezahlt werden, zu dem nur die Eltern Zugriff haben. Doch nur noch zehn dieser Kinder haben überhaupt noch Kontakt zu den Eltern, bei allen anderen weigern sich die Eltern, ihre Kinder zu besuchen. Resultat dieser Finanzierung: pro Kind und Tag stehen sechs Rubel, sprich 50 Pfennige, für Ernährung und Körperpflege zur Verfügung. Doch das schlimmste ist, daß diese jungen Menschen niemals eine Perspektive haben werden.
Wir haben nachgefragt, was mit den Kindern passiert, wenn sie das 16. Lebensjahr vollendet haben. Lapidare Antwort: Dann kommen sie nach Tilsit in die geschlossene Psychiatrie. BI
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