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Dringend Ablenkung gesucht

 
     
 
Die spinnen, die Brandenburger! Wochenlang verbreitete die Landesregierung in der Öffentlichkeit den Eindruck, als gäbe es für sie nur ein einziges Problem: Soll sie zur Demonstration gegen einen Neonazi-Aufzug in der Kleinstadt Halbe aufrufen oder nicht? In Halbe, südlich von Berlin gelegen, befindet sich der größte deutsche Soldatenfriedhof.

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieg
s waren hier rund 50.000 Soldaten der 9. Armee und die gleiche Anzahl Zivilisten in einen russischen Kessel geraten. Die erbitterte Gegenwehr der Soldaten hatte nichts mit dem Glauben an den Endsieg zu tun, sondern mit der Hoffnung, einen Fluchtweg in den Westen zu eröffnen. 23.000 sind gefallen.

Alljährlich zum Totensonntag findet hier ein Aufmarsch angebräunter Kameraden statt. Für den vergangenen Sonnabend hatte der einschlägige Aktivist Christian Worch unter dem Motto "Ruhm und Ehre den deutschen Frontsoldaten und den Opfern der kommunistischen Gewaltherrschaft" zu einem sommerlichen Gedenkmarsch aufgerufen und damit die Tagesordnung der Landespolitik bestimmt. SPD, PDS, FDP, Grüne, Kirchen, Gewerkschafter, DKP, KPD, Attac und andere riefen zu einer Gegendemonstration auf und verschafften Worch damit eine Popularität, die er ohne sie nie erreicht hätte.

Nur CDU-Landeschef und Innenminister Jörg Schönbohm sträubte sich. Er habe keine Lust, hinter der Fahne der DKP herzulaufen. Landtagspräsident Gunter Fritsch (SPD) belehrte ihn, wenn es brenne, dann sei jeder beim Löschen willkommen, da frage man nicht nach den Motiven. Es "brennt"? Steht in Potsdam die braune Machtergreifung vor der Tür? Da fehlte nur noch, daß Fritsch die Einführung einer staatsbürgerlichen Demonstrationspflicht nach DDR-Vorbild forderte. Wie gesagt: Die spinnen, die Brandenburger!

Für den überdrehten Aktivismus der Landes-SPD gibt es Gründe: Bei der Landtagswahl im Herbst 2004 hatte sie einen überraschenden Erfolg eingefahren, doch durch das sich anbahnende Desaster auf Bundesebene ist sie völlig aus dem Tritt geraten. Ihre Bundestagsabgeordneten müssen um die Direktmandate fürchten, denn laut Umfragen ist die CDU auch auf Landesebene an den Sozialdemokraten vorbeigezogen.

Hinzu kommen interne Probleme. Die von SPD-Ministerpräsident Matthias Platzeck geplante Konzentration der Fördermittel auf den Speckgürtel um Berlin (dieberichtete) sorgt an der Basis und im Mittelbau von Partei und Verwaltung für Aufruhr. Da trifft es sich gut, daß es ein paar Neonazis gibt, die für Ablenkung und Motivation sorgen. Und die PDS ist sowieso stets dabei, wenn sich die Möglichkeit eröffnet, eine Volksfront "gegen Rechts" zu bilden und sich selber an die Spitze zu setzen.

Verglichen mit dem verbalen, politischen und juristischen Aufwand im Vorfeld verliefen beide Demonstrationen unspektakulär. 1.000 Polizisten waren aufgezogen, darunter Hundertschaften aus Berlin und Nordrhein-Westfalen. Ihnen standen ein Grüppchen von 105 Neonazis und lediglich 800 wehrhafte Demokraten - statt der erwarteten 3.000 - gegenüber, obwohl die Presse immer wieder auf den Aufzug hingewiesen und zum Schluß sogar der Anglerverband und der Seniorenrat zur Teilnahme aufgerufen hatten. Das Gros der Anständigen wurde von Politprominenz aus Potsdam und Berlin gebildet: Neben Platzeck waren diverse Landesminister und Parteipolitiker anwesend. Hauptredner auf der Kundgebung unter dem Motto "Flagge zeigen" war Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), der seine letzten Wochen im Amt bis zur Neige genießen möchte. Sogar Jörg Schönbohm war gekommen, allerdings nicht - auf diese Unterscheidung legte er wert - als Politiker, sondern als oberster Polizeichef.

Enttäuschung machte sich breit über das fehlende Fußvolk. Könnte es sein, daß die Bürger die Flucht ihrer gewählten Repräsentanten vor den wirklichen Problemen in die Symbol- und Erregungspolitik einfach nur satt haben?

Haben die Menschen die offizielle Symbol- und Erregungspolitik "gegen Rechts" womöglich satt? Nur 800 wollten mit Wolfgang Thierse (Foto) und Matthias Platzeck im brandenburgischen Halbe auf die Straße gehen. 3.000 waren erwartet worden.
 
     
     
 
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