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Vera schmunzelte, als die Freundin ihr die "Ausbeute" ihrer Ostdeutschlandrundfahrt präsentierte. Sie selbst war wohl ein halbes Dutzend Mal dort gewesen, ohne auch nur ein einziges Souvenir zu erwerben. Sylvia dagegen schien so ziemlich jedem halbwegs interessanten Laden zwischen Allenstein und Königsberg ihre Aufwartung gemacht zu haben. Neben handbemalten Holzfigürchen, Stickereien und dem obligaten Bern-steinschmuck waren auch mehrere Kelimbrücken, eine Tiffanylampe sowie - als Glanzstück ihres Streifzugs durch diverse Allensteiner Boutiquen - ein bildschönes, sandfarbenes Kostüm in ihren Besitz gelangt: "Ein echtes Designer stück!" strahlte die Freundin. "Hier bei uns hätte ich bestimmt das Doppelte gezahlt! - Für Manfred hatte ich ja schon einen ganz tollen Anzug ins Auge gefaßt - aber du kennst ihn ja! Im letzten Augenblick hat er gekniffen." "Der Ärmste! Sicher hat er jedesmal Blut und Wasser geschwitzt, wenn du mit Späherblick durch die Läden gepirscht bist." "Da kannst du Gift drauf nehmen!" lachte Sylvia. "Ich glaube, er hat abends im Hotel immer heimlich unser Geld nachgezählt, wieviel noch übrig ist!" "Aber gefallen hat s ihm drüben schon?" hakte Vera nach. "Und wie! Stundenlang hat der Mann am See gehockt und geangelt! Nachher muß ich dir unbedingt das Foto zeigen, auf dem er stolz seinen dicken Barsch in die Kamera hält. Aber jetzt brüh ich uns erstmal einen starken Kaffee! Du kannst ja schon mal den Kuchen anschneiden."
Während Sylvia in der Küche rumorte, betrachtete Vera noch einmal in Ruhe das bunte Sammelsurium an Andenken. Hübsch war es, das hölzerne Storchenpaar, das seinen Platz jetzt auf der Fensterbank gefunden hatte. Lächelnd strich Vera über den glattpolierten langen Schnabel. Dies hier war greifbare Erinnerung an ein wunderbares Land. Greifbar und doch seltsam isoliert, herausgelöst aus einem Bild, das nur als Ganzes Strahlkraft besaß. Ein Mosaikstein, mehr nicht.
Behutsam stellte sie, die Schnitzarbeit aufs Fensterbrett zurück. Sie brauchte kein Souvenir, um sich zu erinnern. Es bedurfte nur der Stille, der Ungestörtheit, und schon stiegen sie auf - die Bilder, die einmal Herz und Sinne berührt hatten.
Da war die im Mittagsdunst flimmernde Dorfstraße, an deren Ende das Haus der Großeltern stand. Klein und sonnenverbrannt duckte es sich hinter dem von Georginen umwucherten Lattenzaun. Kein bekanntes Gesicht würde sich ihr hier zeigen, niemand sie willkommen heißen. Fremde bewohnten das Haus. Und doch gab es Tröstliches zu entdecken. Denn vom Dach her erklang jenes langgezogene Klappern, das schon Veras Vorfahren vertraut gewesen war. Ein Geräusch, das die Stille jener Mittagsstunde nicht zerriß, sondern sie verdichtete, vertiefte, ja, fühlbar machte.
Der Gruß der Störche - galt er ihr? Lange haftete ihr Blick an dem dick aufgepolsterten Nest. Wie versöhnlich stimmte doch der Anblick dieses altbekannten, liebenswerten Hausbesetzers! Prachtvoll hob sich das weiße Gefieder gegen den hohen, tiefblauen Sommerhimmel ab, glänzte der rote Schnabel der Altvögel im Sonnenlicht!
Noch heute glaubte sie den Zauber, die Selbstvergessenheit jener Stunden zu spüren. Ohne daß es eines Hilfsmittels bedurfte, ließ sich dieser Tag - wann immer sie es wünschte - ins Bewußtsein rufen. Ein Mittel, um der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, schien auch das kunstvoll gerahmte Bild zu sein, das Sylvia ihr beim Kaffeetrinken überreichte: "Ich weiß, du hast es nicht so mit der naiven Malerei. - Aber ist das Bild nicht einfach entzückend? Als ich es im Schaufenster sah, habe ich sofort an dich gedacht. So hast du es doch immer beschrieben - das Dorf deiner Familie."
Nachdenklich betrachtete Vera das Motiv. Ja, dies hier war ein Dorf, wie es in Masuren unzählige Male vorkam: kleine, wettergegerbte Holzhäuser, hinter denen der Wald blaute. Liebevoll waren die Details herausgearbeitet: der Ziehbrunnen am Eingang des Dorfes, die bunten Sommerblumen hinterm Staketenzaun, der an der Hauswand zum Trock-nen aufgehängte Tabak. "Gefällt es dir?" hörte sie die Freundin jetzt ein wenig ängstlich fragen. "Es ist wirklich reizend", lächelte Vera. "Lieb, daß du an mich gedacht hast! Zu Hause kriegt es einen Ehrenplatz über meinem Schreibtisch."
Ja, sie freute sich über das nette Mitbringsel. Kostbarer als jenes Bild waren ihr jedoch die an keinem Gegenstand festgemachten, nur in ihrem Herzen verankerten Erinnerungen. |
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