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Ein Spazierstock mit Füllung

 
     
 
Still lag an einem der ersten warmen Frühlingstage die zum Stadtwald führende Landstraße im hellen Sonnenschein. An den Grabenrändern sah bereits ein wenig Grün hervor. Weder Fußgänger noch Pferdewagen kamen an diesem Sonntag vorüber. Sonntag war s in allen Landen, so auch hier in der Ruhe und Abgeschiedenheit in unmittelbarer Nähe der Stadtgrenze. Hoher Fichten- und Birkenbestand des nahen Waldes gaben ein majestätisches Bild von der Kraft und Schönheit der Natur.

An der dem Wald gegenüberliegenden Straßenseite befand sich eine Reihe im gleichen Stil erstellter schlichter Siedlungshäuschen, deren kleine bescheidene Vorgärten von den Bewohnern liebevoll gepflegt waren. Schneeglöckchen und blühende Haselnußsträucher zierten diese kleinen Gartenanlagen. Sie waren die ersten Frühlingsboten nach einem kalten, schneereichen Winter. In einem der Häuser lebten der Schlosser des städtischen Gas- und Wasserwerkes Anton Wagenschmidt mit seiner Frau Hilde und den beiden Töchtern Erika und Ingrid. Das Häuschen war weiß getüncht, und wilder Wein rankte an einigen Stellen der Hauswände empor. Am Eingang des Hauses wuchsen blaue und weiße Fliederbüsche, die schon Knospen angesetzt hatten. An der linken Seite des Hauseinganges stand im Schatten eine weiße Holzbank, die zum gemütlichen Sitzen einlud.

An diesem Sonntag fand bei Wagenschmidts ein Familienfest statt. Die Konfirmation der ältesten Tochter Erika sollte im Verwandten- und Freundeskreis gebührend gefeiert werden. Erika war mit ihren vierzehn Jahren ein hübsches Mädchen von schlanker, anmutiger Gestalt. Zur Feier des Tages trug sie ein schlichtes, schwarzes Kleid, das zu ihrem hellblonde
n, glänzenden Haar einen prächtigen Kontrast abgab. Nach Beendigung des Konfirmationsgottesdienstes in der Kreuzkirche fand sich die Familie mit ihren Verwandten nach dem Kirchgang im Haus Wagenschmidt ein.

An der festlich gedeckten Mittagstafel hatten alle Anwesenden inzwischen frohgestimmt Platz genommen. Es wurde mit gesundem Appetit gegessen und getrunken. Man war in guter Stimmung und unterhielt sich munter und angeregt. Nach Beendigung der Mahlzeit saß man zwanglos zusammen und betrachtete zwischendurch die vielen schönen Geschenke und wünschte der Konfirmandin Erika nochmals Glück und Segen für ihren neuen Lebensabschnitt. Auch Nachbarsfamilien und der ortsbekannte, freundliche Gastwirt "Vater" Rahn von der nahen Waldgaststätte "Villa Kuhlins" gehörten zu den Gratulanten. Nach dem reichhaltigen Mittagsmahl verspürte man das Bedürfnis, im Sonnenschein die erfrischende Frühlingsluft, die noch ein wenig herb, aber schon voller Düfte war, im Hausgarten und nahen Wald durch einen kleinen Spaziergang zu genießen.

Während der anschließenden gemeinsamen Kaffeetafel sprachen die Anwesenden unter anderem über Familienangelegenheiten und auch über die besonderen schwierigen Verhältnisse im von Litauen seit 1923 besetzten deutschen Memelland. Dadurch wurde der Memelstrom mit seinen formschönen Brücken, der Königin-Luise-Brücke und Eisenbahnbrücke in Tilsit, zur Hälfte widerrechtlich geteilt und war somit die Grenze zwischen Deutschland und Litauen.

"Ja", meinte Fritz Klaudien, Schwager des Großvaters Max Wagenschmidt, der in der Nähe der "alten Memel" wohnte, "wir haben bei uns im Memelland all schwere Jahre hinter uns. Ich hab ja nur e kleine Rent vom vielen Wurrachen beim Wasserwerk in Übermemel. Es muß eben jehen. Wenn wir nich unsern großen Obst- und Gemüsegarten und e Feld für Kartoffeln und e bißchen Korn hätten, wär s schlimm für uns. So können wir uns wenigstens e Schweinche und Hühnerchen halten. Solang wir noch arbeiten können, haben wir ja zu essen genug. Aber Kleidung, Schuhe, Werkzeug, Öl, Brennspiritus oder Petroleum jibt es doch nur in de paar größte Städte in Litauen, vleicht noch in Memel oder Heydekrug. Aber wie nach dort hinkommen? E Postauto oder Eisenbahn fährt ja nich. In unsere Näh im Laden von Ewald Dombrowsky konnten wir wenigstens für unsere Lamp inne Wohnküch für de Herbst- und Winterabende Petroleum kaufen und was man sonst noch so brauchte. Im vorigen Jahr is er nu jestorben. Den Laden konnte Martha, seine Frau, allein nich halten. Se is zu ihrem Sohn nach Prökuls bei Memel jezogen. Tat uns sehr leid, sie waren so jute Nachbarn. Aber der hier, mein Schwager Max, hat uns viel geholfen."

"Darüber brauchst du jar nich viel zu reden, Fritz. Das is doch e Selbstverständlichkeit, daß wir uns jejenseitig helfen. Mit dem Petroleum, das is so e besondere Sach , wie ich euch da helfen konnte. Dazu möchte ich aber nichts sagen, ist auch nicht nötig."

"Na Vater, inne Familie kannst doch erzählen, wie das mit dem Petroleum war", sagte sein zweiter Sohn Richard. "Nei, das jeht nu eben nicht. Amend kommt man noch ins Jered ", antwortete er seinem Sohn.

Die Anwesenden wurden daraufhin neugierig, sagten aber nichts. Max war es allerdings anzumerken, daß es ihm sichtlich unangenehm war, womöglich sein kleines Geheimnis auszuplaudern. "Nu hör doch mal zu, uns kannst du das doch ruhig erzählen", forderte der Sohn nochmals seinen Vater auf. "Du spannst uns janz schön auf de Folter."

In der Kaffeerunde trat Schweigen ein. "Laß mich endlich in Ruh mit deiner Fragerei, Richard." Max zündete sich erst mal eine Zigarre an. Schwager Fritz zeigte ebenfalls eine bedenkliche Miene, sagte aber nichts und schaute nur seine Frau Marie, die Schwester von Max Wagenschmidt, an. Tante Wilma Schankat, die Max gegenübersaß, blickte ihn an und bemerkte: "Das versteh ich wirklich nich, was das alles sein soll!"

Max schaute sich unschlüssig in der Tischrunde um, überlegte einen Augenblick und sagte dann zu seiner Schwiegertochter: "Hilde, sind de Kinder draußen? Mach mal die Stubentür zu. Ich sage euch aber, wenn Ihr darüber redet, wenn ich nu meine Jeschicht erzähl, is es aus mit de Familie! Anton, jib uns Männern mal e Rund Meschkinnes und für die Frauen von eurem selbstgemachten Himbeerlikör. Also meinetwegen, ist aber e lang Jeschicht . -

Neulich kauft ich für de Oma bei Raudies und Bugenings Fitzelband und Sicherheitsnadeln. Beim Wegjehen ausem Kaufhaus kam ich rein zufällig mit e freundlichen jungen Mann ins Gespräch, der aber nur e bißche Deutsch verstand. Nu, ein Wort gab das andere. Was soll ich euch sagen, es war e litauscher Zollbeamter, aber in Zivil. Ich begleitete ihn übern Fletcherplatz bis zur Auffahrt anne Königin-Luise-Brück . Als wir uns dann verabschiedeten, stellten wir uns vor, ich mit meinem Vornamen Max, und er hieß Alosius. Wir hofften, uns mal wieder zu treffen."

Richard konnte es scheinbar nicht mehr erwarten und sagte wiederum zu seinem Vater: "Du erzählst und erzählst, aber nicht vom Petroleum." - "Nu wart ab, sachtche, sachtche, immer all schön nach de Reih . Mit de Oma hab ich auch überlegt, wie man bloß ohne Zollgebühren für Fritz über de Luise-Brück nach Übermemel Petroleum bringen kann. Uns fiel aber nichts ein. Na, se können doch nich in de Herbst- und Winterabende im Dunkeln hukken. Eines Tages traf ich inne Hohe Straß meinen alten Freund aus der Jugendzeit und Kriegskamerad von den 41ern, Wilhelm Sablonsky. Das ist doch de Drechslermeister aus de Grabenstraß in de Näh von de Hefefabrik. Mit ihm hab ich erst mal de janze Sach besprochen. Er blickte mich janz erstaunt, aber dann verständnisvoll an und meinte, ich soll man Ende nächste Woch zu ihm kommen. Er wird sich das überlegen. Ich konnte, das könnt ihr mit glauben, de Zeit kaum abwarten."

Die Spannung der Anwesenden war immer mehr zu spüren. Max fuhr dann fort: "Als ich Wilhelm in seine Werkstatt aufsucht , hantierte er an einem alten Wohnzimmertisch herum. Den hatte er aber janz wunderbar auf neu gemacht. Wilhelm blickte mich an, lachte verschmitzt und sagte, hol doch mal von dorten aus de Eck am Regal den Spazierstock. Ich schaute ihn janz erstaunt an. Warum denn das? Was will der mit dem Stock? Er nahm ihn in seine Hand, drehte die elejante, schwarze Krück ab und sagte, er habe lang überlegt, bis er auf diesen Einfall kam. Er hat den Spazierstock dann abgemessen, zugeschnitten, ausgehöhlt, isoliert, lackiert, mit Petroleum gefüllt und zugedreht. Wär janz dicht, riecht auch nich, sagte Wilhelm. Der Stock hätt zur Prob e paar Dag inne Werkstatt gestanden. Jeht über e viertel Liter rein. Ja, das war de Lösung!"

Alle Anwesenden waren überrascht. Daran hatte niemand gedacht. Max erzählte nun weiter: "Was bin ich dir nu schuldig? fragte ich Wilhelm. Davon sprich nicht, antwortete er weich. Für n alten Kamerad mach ich alles, wenn ich das noch kann. Jeh man ruhig mit ihm über de Brück und helf Fritz. Wir wohnten auch mal früher in seine Näh , nich weit von de alte Memel, an de Taurogger Straß , wie du ja weißt. Waren jute Nachbarn, und sind wejen meine Beinverwundung ausem letzten Krieg inne Stadt jezogen. Dann holte er ausem Schaff anne Wand e Flaschche Korn, und wir haben darauf erst mal einen jetrunken. Aber nu kommt noch was janz Wichtiges! Freudig ging ich jleich am nächste Dag, es war so um 11 Uhr, über de Brück und kam zum litauschen Zollhäuschen. Man wollte von mir de Grenzkart sehen. Meinen neuen Spazierstock ließ ich nich aus meine Hand. Ich packt nu in de eine Fupp von meine Jack, dann in de andere. Nuscht! Keine Kart . Und ich hatt mich schon so gefreut, Fritz und Marie zu überraschen. So n Pech beim ersten Mal! Vor lauter Aufregung hatt ich doch de Grenzkart vergessen! Ich pracherte und pracherte, aber de litausche Zollbeamte ließ mich nich durch.

Plötzlich jeht doch de Tür vom Zollhaus auf, und wer kommt da heraus? Menschenskind, Erbarmung, seh ich recht? De Alosius. Er schien zu merken, daß was nicht stimmt. Se sprachen leise miteinander. Danach sagte Alosius zu mir, ich soll man diesmal durchjehen. Aber beim nächsten Mal muß ich de Grenzkart vorzeigen. Ich sag euch, mir fiel vleicht e Stein vom Herzen. War doch jut, daß ich dem Alosius kennengelernt hatt ."

Oma Minna Pfefferkorn fragte Max besorgt: "Hattest du denn keine Angst nich?" - "Aber wo, wozu Angst haben, Minnchen? Nei, nei, mir passiert all nuscht! Na, Fritz und du, Mariechen, ihr habt nich schlecht gestaunt, als ich bei euch dann ankam und zum ersten Mal aus meinem neuen Spazierstock in eure Blechkann Petroleum reingoß. Aber ihr sollt noch mehr Petroleum für den Winter haben. Ja, das war nu de janze Jeschicht vom Petroleum."

Alle klatschten zustimmend Beifall und lachten Max vergnügt an. Aus den Gesprächen der Tischrunde war Anerkennung, Bewunderung und Freude über die selbstlose, aber auch gefahrvolle Hil- feleistung von Max zu entnehmen. "Nu wollen wir aber wirklich Schluß machen", meinte Max, "und Anton und Hildchen für die herzliche und gute Bewirtung danken. Es war bei euch e sehr schönes Familienfest." - Gemeinsam begab man sich auf den Heimweg.

Bruno Bielefeld malte einst die Hohe Düne und den Kurenkahn. Ein Motiv, das sich bei den Malern großer Beliebtheit erfreute und nun auch in dem neuen Kalender "Ostdeutschland und seine Maler" enthalten ist, der im Jahr 2003 gewiß wieder viele Freunde finden wird. Künstler wie Marianne Flachs, Hans Beppo Borschke, Hans Hartig, Eduard Anderson, Karl Storch d. Ä., Werner Riemann, Anna v. Glasow oder Robert Hoffmann-Salpia sind mit Beispielen aus ihrem Schaffen vertreten, ein Schaffen, das die Schönheit der ostdeutschen Landschaft ebenso zeigt, wie es den Fleiß seiner Bewohner dokumentiert, seien es die Eisfischer auf dem Kurischen Haff, seien es Lommenschiffer oder Bauernjungs an der Pferdetränke. Der Kalender "Ostdeutschland und seine Maler" auf das Jahr 2003, für den die Kulturabteilung der Freundeskreis Ostdeutschland die Bilder auswählte, kann noch bis zum 30. September zum Vorzugspreis von 18 Euro inklusive Versandkosten (später 20,50 Euro) direkt beim Schwarze Kunstverlag, Richard-Strauß-Allee 35, 42289 Wuppertal, Telefon 02 02/ 62 20 05/06, Fax 02 02/ 6 46 31, bestellt werde
 
     
     
 
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