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Es ist ein ungleicher Krieg. Auf den ersten Blick - jedenfalls vieler Medienleute - hat Saddam Hussein keine Chance. Die technologische und militärische Überlegenheit der Amerikaner ist erdrückend. Und hinter ihnen steht die größte Wirtschaftsmaschinerie der Welt, Nachschub an Material und Soldaten ist nur eine Frage der Logistik.
Aber das mächtigste Land der Welt hat nicht nur den größten Teil der veröffentlichten Weltmeinung gegen sich - angesichts der angloamerikanischen Dominanz in der Medienwelt ein bemerkenswertes Phänomen -, sondern auch eine Phantomarmee, die sich an keine Regeln hält. Es ist die Armee der Selbstmörder. Viertausend sollen es sein, sagt Bagdad, und täglich würden es mehr. Es ist eine Armee von Todgeweihten. Sie scheuen den Tod nicht, sie suchen ihn, denn er verspricht eine bessere Welt, das Paradies. Sie kennen weder die Genfer Konvention noch die von Den Haag, sie kennen nur ihr persönliches Gesetz Allahs. Nach diesem Gesetz verfahren sie, und das ist einfach: Tod den ungläubigen Invasoren.
Damit ist der Krieg am Golf in eine neue Phase getreten. Zu den herkömmlichen militärischen Mitteln ist nun das irrationale Moment der Selbstmordkommandos getreten. Damit war zu rechnen. In den letzten Jahren haben die Strategen Saddams die Selbstmordtaktik in Palästina, Afghanistan und Tschetschenien studiert. Sie haben Kontakte gepflegt mit Hammas und anderen palästinensischen Terror-Organisationen. Saddams Formel lautet "Dschihad gegen High-Tech". Und darauf ist die große Armee aus Amerika offenbar nicht vorbereitet. Gar nicht auszudenken, wie ein Straßenkampf regulärer Truppen gegen diese Phantom-Krieger Allahs im Dienste Saddams aussieht. Die blutigen Attentate in Israel vermitteln da nur einen blassen Eindruck.
Die wirkliche Sprengkraft dieser Armee der Todgeweihten aber explodiert nicht nur in den Straßen von Basra oder Bagdad. Das tödliche Selbstopfer entfaltet seine Wirkung im ganzen islamischen Raum. Es senkt die psychologischen Hemmschwellen auf den Straßen in Kairo, Amman oder Islamabad. Hier von "Verzweiflungstaten" zu sprechen, wie es ein amerikanischer General jetzt tat, offenbart eine gewisse Naivität und Überheblichkeit, die tödlich sein kann. Denn je länger dieser Krieg dauert, umso lauter werden die Proteste in den arabischen Ländern. In den Ruf nach einem neuen "Heiligen Krieg" stimmen jetzt selbst als gemäßigt eingestufte Geistliche ein. Die These von einem Flächenbrand, vor dem der deutsche Außenminister Fischer mit zerfurchtem Gesicht warnte, scheint sich auf den ersten Blick zu bewahrheiten. Aber die Bilder, die uns vor allem das Fernsehen ins Wohnzimmer liefert, sind mehrdeutig, und sie verbergen die wahren Maßverhältnisse des Politischen im Vorderen Orient.
Drei Aspekte gilt es zu beachten. Zum ersten: Die Machtstrukturen in der arabischen Welt sind stark personalisiert. Es gibt - von Israel abgesehen - keine Demokratie in diesem Raum. Die Potentaten werden, sobald sie sich bedroht fühlen, unbarmherzig zuschlagen lassen. Man weiß, daß die Straße zum verschlingenden Moloch wird, wenn die Massen öffentlich dem religiösen Fanatismus verfallen. Dann geht es für die Machthaber um den eigenen Kopf. Solange es sich aber um kontrollierbare Mengen handelt, üben sie nur die Funktion eines Ventils aus. Es wird Dampf abgelassen. Das berührt die Machtfrage nicht. Solche Demonstrationen wird es, so lange der Krieg dauert, immer wieder geben. Vor allem in großen Stadien, in denen alles überschaubar bleibt.
Zum zweiten: Das Lenkungsinstrument für die Massen ist in Diktaturen der Rundfunk in Ton und Bild. Hier ist in der Tat ein Unterschied zum Golfkrieg vor zwölf Jahren festzuhalten. Damals gab es Al Dschasira noch nicht. Aber hier gilt der Grundsatz: In dubio pro rege - im Zweifel für den König, also bei Gefahr niederknüppeln. Man wird dem Sender nicht erlauben, die Fesseln des Volkes zu lösen. Das allerdings ist nur dem Emir von Quatar möglich, wo der Sender seine Zentrale hat. Der Druck auf den Emir wird wachsen, wenn die Straße sich zu sehr füllt.
Zum dritten: Es mag den Potentaten gelingen, im Moment und für einige Jahre noch die Massen zu kontrollieren. Aber der religiöse Fun- damentalismus hat Zeit. Er wird getragen von der Demographie. Im Iran ist fast die Hälfte der 65 Millionen Einwohner jünger als 15 Jahre, in der Türkei hat sich die Zahl der Menschen seit 1950 von gut zwanzig Millionen auf über 65 Millionen mehr als verdreifacht (in zwanzig Jahren rechnet man mit hundert Millionen, weshalb ein EU-Mitglied Türkei die machtpolitische Gewichtung in der Union verlagern würde). In Ägypten zählt man heute fast siebzig Millionen, auch hier hat sich die Bevölkerung im letzten halben Jahrhundert glatt vervierfacht. In Algerien leben heute mehr als 32 Millionen, zu Beginn der Unabhängigkeit 1962 waren es gerade mal zehn, auch im Irak leben heute mit 22 Millionen trotz der Kriege des Saddam Hussein mehr als doppelt so viele Menschen wie zu Beginn dieser Diktatur. Gleiches läßt sich sagen von Marokko, Jordanien, den Palästinensern, den Afghanen oder Pakistanis - die Völker und Stämme im islamischen Krisenbogen vermehren sich schneller, als Mittel für eine hinreichend profunde, das Denken und Handeln bestimmende Bildung bereitgestellt werden können. Gegen Fanatismus hilft nur Bildung. Aber nur wenige Machthaber geben Geld für die Aufklärung aus. Das macht die Massen so anfällig für einfache Parolen vom Heiligen Krieg.
Fazit: Die politischen Strukturen müssen geändert werden, solange es noch geht. Irgendwann läßt sich die Masse nicht mehr einhegen, irgendwann wird sie kritisch und schlägt um in Gewalt, übrigens nicht nur in Nah- und Mittelost. Die Idee Wa-shingtons, Demokratie in diesen Raum zu tragen, mag utopisch oder naiv anmuten. Sie entbehrt nicht eines realen Hintergrunds. Denn wenn nichts getan wird, sind die Leute auf den Straßen heute in der Tat Vorboten für andere Zeiten. Iran und Algerien haben gezeigt wofür. Die Europäer, die jetzt so wohlfeil und manchmal sogar mit Häme auf den Amerikanern herumhacken, sollten mit ihrem so oft gepriesenen historischen Bewußtsein diese Perspektiven sehen und bedenken. Es geht auch um ihre Zukunft. |
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