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Deutsche Sozialwissenschaftler bewohnen den Elfenbeinturm. Der modernen Technik stehen sie oft mit Skepsis gegenüber und brüsten sich damit, daß sie nicht in der Lage sind, E-Mails zu lesen oder zu schreiben. Ein deutscher Professor hat seine Sekretärin, die alles für ihn tippt. Und wenn er ein Buch veröffentlicht, interessieren ihn die Millionen potentieller Leser unter den Bundesbürgern nicht. Es ist ihm lieber, er findet einen entlegenen Fachverlag und schreibt nur für die Fachkollegen. Und wenn das eigene Buch ein paar Hundert Seiten dicker ist und noch fußnotengeschwängert daherkommt, um so besser. Selbstverständlich ist dies alles sehr überzogen. Doch jeder, der einmal eine deutsche Universität betreten hat, wird ein Körnchen Wahrheit in diesen Sätzen entdecken. Wie diese lebensfremden, aber staatlich bestens alimentierten Damen und (in den meisten Fällen) Herren die jungen Leute vor dem Prekariat bewahren und lebens- und berufs tüchtig machen wollen, steht in den Sternen.
Ein ganz anderer Fall ist der Göttinger Hochschullehrer Franz Walter. Er unterrichtet ordnungsgemäß an einer deutschen Universität Politikwissenschaft und hat einige Fachbücher publiziert. Doch er tut mehr und anderes als viele seiner Zunftgenossen: Er scheut sich nicht, seine elegante Feder auch den Medien zur Verfügung zu stellen und schreibt fleißig für "Die Welt", die "taz", den "Spiegel" oder die "Frankfurter Rundschau". Und es kommt noch "schlimmer". Walter scheut sich nicht, auch für "Spiegel Online" in regelmäßigen Abständen Essays zu verfassen. Damit betritt er Neuland. "Dieses Buch ist eine Premiere. Zum ersten Mal erscheint der Band eines Wissenschaftlers mit politischen Essays, die zuvor ausschließlich im Internet veröffentlicht wurden", schreibt Mathias Müller von Blumencron, Chefredakteur von "Spiegel Online", in seinem Vorwort. Das Internet sei das globale Diskussionsforum des 21. Jahrhunderts, und die Online-Medien nähmen die Rolle als neues Kaffeehaus wahr. Walter und "Spiegel Online" haben verstanden: Wer die Leser von heute erreichen und insbesondere die jungen Menschen für Politik interessieren will, kann sich den neuen Medien nicht verschließen.
Die Beiträge sind zwischen Januar und September 2006 bei Kaffee, Keksen und gelegentlich Büffelgras-Wodka im engen Austausch mit Walters Mitarbeitern und Studierenden entstanden. Man wäre gern dabei gewesen. Sicher waren die Gespräche interessant, und Büffelgras-Wodka ist auch ganz lecker. Der Buchtitel ist etwas irreführend. Walter träumt nicht nur von der schwarz-grün-gelben Jamaika-Koalition, sondern macht sich seine Gedanken über die deutsche (Innen-)Politik des Jahres 2006. Eingestreut sind auch einige historische Reminiszenzen, wenn der Autor über Willy Brandt, Herbert Wehner, die Intellektuellen und die SPD oder die 68er nachdenkt.
Die Vielfalt der Artikel beinhaltet eine Vielzahl von Themen und läßt sich daher nicht auf einen Nenner bringen. Walters Grundthese besagt, daß die Republik zur Zeit "den Charme der Nüchternheit, des soliden Handwerks, der verläßlichen Kärrnerfiguren" verströmt, für den Figuren wie Merkel, Müntefering, Kauder und Struck stehen. Den Parteien ist die Fähigkeit abhanden gekommen, die Gesellschaft zu prägen. Es ist eben nicht die Elite, die in den Parlamenten sitzt, und wahrscheinlich haben die meisten Parlamentarier auch gar nicht die Zeit, um sich wirklich sachkundig zu machen.
Insgesamt zeichnet der Autor ein stellenweise recht trostloses, aber realistisches Bild der deutschen Politik im Jahr 2006. Doch dabei wird er nie maßlos und kritisiert ebenso die übertriebenen Ansprüche und die Kurzatmigkeit der kommentierenden Klasse und auch der Bürger. Das schmale Buch ist sehr gut geschrieben. Man liest mit Genuß und Gewinn, wie marode unser Gemeinwesen ist. Leider liefert Walter nur die Diagnose. Er verweigert die Antworten darauf, wie Lösungen auszusehen haben. Vielleicht lesen wir die dann in den "Spiegel"-Essays des Jahres 2007. Franz Walter sollte schon mal Kaffee, Kekse und Büffelwodka für sein Göttinger Seminar einkaufen.
Franz Walter: "Träume von Jamaika - Wie Politik funktioniert und was die Gesellschaft verändert", Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2006, 255 Seiten, 8,95 Euro
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