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Einer blieb da

 
     
 
Einer blieb da. Sie hatten ihn ver-
gessen, als er hieß: Rette sich, wer kann. Vielleicht lag es daran, daß sich der Auszug aus dem gelobten Land in entgegengesetzter Richtung vollzog. Denn auf der Straße, an deren Rand er stand, zogen die Sieger ein. Aber einer aus Stein hat es sicherlich auch nicht nötig, sich zu retten. Denn vor ihm sind tausend Jahre wie ein Tag.

Die Menschen, die durch Generationen mit ihm vertraut waren, nannten ihn den steinernen Bartel. Niemand konnte sich mehr daran erinnern, wie er zu ihnen gekommen war. So täuscht sich der Mensch: sie waren zu ihm gekommen. Er hatte diesem Land seinen Namen gegeben, und auch die kleine Stadt, die vor mehr als 600 Jahren ihre Stadtrechte erworben hatte, erhielt durch ihn ihren Namen: Barten. Eine kleine Stadt, die trotz großer Vergangenheit nie über mehr als 1500 Einwohner kam. In Meyers Handlexikon
von 1893 ist ihre Einwohnerzahl mit 1488 angegeben. Jedes Dorf, das heute "schöner" geworden ist und eine Prämie dafür erhält, hat mehr aufzuweisen. Barten bedurfte keiner Prämie, es war von anderer Schönheit und dazu gehörte er, Bartel, wie ihn die Kinder einfach nannten, die an ihm vorüberrannten, manchmal bei ihm stehenblieben, ihn streichelten, ihn besetzten. Möglich, daß sein steinerner Kopf im Laufe der Zeit etwas runder geworden war.

Aber einmal muß er sich von der
Stelle bewegt haben. Die Alten erinnerten sich daran. Es war nach der Johannisnacht, als er plötzlich an der Chaussee stand, die nach Rastenburg führt. War es ihm am Weg zur Burg zu langweilig geworden? Nun begrüßte er die Ankommenden, die die Straße benutzten, auf der schon Napoleon gen Osten gezogen war, und auch die Reisenden, die mit der Kleinbahn an ihm vorüberfuhren. Er hieß jeden willkommen!

Als sich der Kriegslärm wieder einmal verzogen hatte, der Strom der Heimwehkranken zögerlich einsetzte, waren nicht nur viele Häuser verschwunden, sondern auch Bartel war fort. Eines seiner Geheimnisse? Konnte er sich unsichtbar machen? Nur ein Foto zeugte noch davon, daß es ihn gegeben hatte und das Gedächtnis. –

*

Im Fernsehen gibt es eine Dokumentation über Masuren. Die Kamera fährt durch den Schloßhof von Allenstein und erfaßt einige historische Plastiken, die dort aufgestellt sind. Das Herz gerät in Aufregung, es ist ja schließlich nicht wie das des Bartel aus Stein! Da steht er. Sofort erkannt, auf der Stelle!

*

Besuch in Allenstein. Das Schloß ist geschlossen. Durch das Gitter sieht man im Schloßhof einige Skulpturen stehen. Er, der Gesuchte, ist nicht darunter. Neuer Versuch. Und dann übergroße Freude. Da steht er und heißt uns willkommen. Wir stürzen auf ihn zu. Er hebt schon das Horn, welches er immer noch an sich gepreßt hält, zur Begrüßung, da werden wir zurückgepfiffen. Betreten des Rasens verboten, ebenso das Berühren der Figuren.

Mein steinerner Geliebter!
Freund meiner Kinderjahre! Mir fällt das Lied von den beiden Königskindern ein, die nicht zusammen kommen konnten, weil das Wasser zwischen ihnen zu tief war. Wir sehen uns an, und ich spüre, es geht ihm wie mir. Es fällt uns, wie Heinrich, dem vermeintlich der Wagen brechen soll (Heinerich, der Wagen bricht), nur ein Ring von unseren Herzen, und wir begreifen, er und ich, was sind tausend Jahre gegen diese Sekunde, in der sich umarmen nicht mehr nötig ist.

Wir nehmen Abschied, kaufen im Eingang der gegenüberliegenden Burg einige Ansichtskarten, auf denen er auch zu sehen ist und während wir in den Bus steigen, der uns zu unserer Unterkunft bringen wird, hören wir in der Ferne jemanden sein Horn blasen. –

Wieder zu Hause, das eigentlich woanders ist, gibt es Fotos zu besehen, die wir gemacht haben von ihm. Er gehört zu den Erinnerungen, die nach Jahrzehnten der Wiederbegegnung standhalten, im Gegensatz zu anderen, die geschrumpft scheinen. Im Gegenteil, er scheint in der Zwischenzeit gewachsen zu sein. Liegt das am neuen Standort? Früher, als er noch Umarmungen duldete, sich anfassen ließ, sah er kleiner aus, mußte deshalb sicherlich fester in der Erde stehen.

Überhaupt, wann wechselte er
seinen Standplatz? Wann machte er sich auf den Weg und warum? Hatte er genug von all den Völkerwanderungen, den siegreichen und geschlagenen Kolonnen, von den endlosen Flüchtlingstrecks und wurde deshalb selbst zum Flüchtling? Zog er deshalb in den Schutz eines Schlosses? Sicherlich geschah das wieder in einer Johannisnacht, wenn die Hexen durch die Lüfte reiten, wenn geheimnisvolle Wesen aus der Vorzeit wie er den steinernen Mund öffnen und zu sprechen anfangen. – Wer das wüßte!

 
     
     
 
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