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Vom Tabu zur Akzeptanz

 
     
 
Mehr Klarheit über den aktuellen Stand dieser Debatte sollte am 21./22. Januar ein vom Haus des Deutschen Ostens München, dem Bayerischen Rundfunk und der Stadt Nürnberg veranstaltetes Symposium unter dem Titel "Das deutsche Erbe im Osten Europas – vom Tabu zur Akzeptanz" bringen. Ort des Gesprächs mit Gästen aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Rumänien, Serbien
, Estland und Königsberg war das ‘96 eingeweihte "Krakauer Haus" in Nürnberg.

Nach dem Eingangsvortrag "Polen und Deutsche in Europa" von Botschafter Andzej Byrt hoben die polnischen Vertreter insbesondere die materielle Bewahrung deutscher Bausubstanz in der heutigen Republik Polen hervor und betonten, daß es eine solche im reicheren Westdeutschland der Nachkriegszeit nicht gegeben habe. "Sollten sich etwa die Polen mehr um das deutsche Kulturerbe kümmern, als die Deutschen selbst es zu tun bereit waren?" lautete die provokante Frage des Publizisten Andrej Stach.

Im weiteren Verlauf des Symposiums kam man überein, daß das deutsche Erbe so oder so nicht allein durch die Restaurierung alter Bauten bewahrt werden kann, sondern es unbedingt einer "geistigen Komponente" bedarf. Die polnischen Teilnehmer wiesen in diesem Zusammenhang beispielsweise auf die in Breslau zu besichtigende größte Sammlung deutscher Barockliteratur hin. Der Direktor des Städtischen Museums der schlesischen Hauptstadt, Maciej Lagiewski, berichtete zudem über ein Vorhaben, im Rathaus eine Art kleiner "Walhalla" mit steinernen Porträts großer Breslauer zu präsentieren. Zwölf Büsten sollen aufgestellt werden, darunter u. a. die Adolph Menzels, Carl-Gotthard Langhans‘, Max Borns und Edith Steins.

In Estland hatten Kunsthistoriker bereits Ende 1988 eine Gesellschaft für deutschsprachige Kultur in Estland gegründet, um die Rolle der Deutschbalten und deren kulturelle Leistungen bewußter zu machen.

Nach dem endgültigen Zusammenbruch der Sowjetunion im Herbst 1991 galt es dann allerdings eine Vielzahl naheliegender Probleme zu lösen und zahllose Löcher in der estnischen Geschichtsschreibung zu füllen, so daß die spezielle Rolle der Deutschbalten in der Folgezeit etwas aus dem Blickfeld geriet. Sirje Kivimäe, die Vorsitzende der "Gesellschaft für deutschbaltische Kultur in Estland" erinnerte jedoch an die symbolträchtige Tatsache, daß die höchste staatliche Auszeichnung der kleinen Baltenrepublik, das "Kreuz des Marienlandes", an die frühe deutsche Vergangenheit anknüpft und schloß mit dem Vorwurf: "Warum zeigen die Deutschen so wenig Respekt vor sich selbst?"

Obgleich mit der Restaurierung des Königsberger Domes ein Signal des Willens zur Bewahrung des deutschen Erbes im nördlichen

Ostdeutschland gesetzt wird skizzierte Wladimir Gilmanow, Professor der Germanistik an der Universität Königsberg, ein düsteres Bild von der gegenwärtige Lage in der russischen Exklave. In seinen Ausführungen charakterisierte er das heutige Königsberg als "Waisenkind einer russisch-deutschen Schicksalsgemeinschaft". Es sei die besondere Tragik dieser Region, daß man sie in der Nachkriegszeit zu "einem kommunistischen Biotop und zum größten sowjetischen Flugzeugträger" gemacht habe.

Gilmanow unterteilte seine Analyse in drei Abschnitte: In der ersten Phase von der "Stunde Null" bis zur Präsidentschaft Gorbatschows sei das Thema der deutschen Vergangenheit des Gebietes total tabuisiert gewesen. Mindestens drei Vernichtungswellen sollten im Zuge des ideologischen Endzeit-Wahns die architektonischen Spuren unter sich begraben.

Die zweite Periode währte vom Ende des Sowjetimperiums bis zum Jahr 1996. Dies sei eine Zeit der Hoffnung gewesen, die "romantische Ära" der Königsberger Nachkriegsgeschichte, in der das Thema einer "regionalen Identität" viele Menschen von einer deutsch-russischen Konföderation als Teil der europäischen Einigungsbestrebungen träumen ließ. Demgegenüber ist die dritte, bis in die Gegenwart andauernde Phase laut Gilmanow gekennzeichnet durch den Mißerfolg der demokratischen Reformprozesse in der ganzen Russischen Föderation. Als Folge lasse sich überall eine wachsende Ratlosigkeit, ja Resignation ausmachen.

Die abschließende Vision des Königsberger Germanistik-Professors nahm sich vor diesem Hintergrund wie ein Hilferuf aus: "In diesem Lande könnte ein Modell der europäischen Zusammenarbeit entwickelt werden, ein Modell der Kooperation und des Zusammenseins verschiedener Volksgruppen und ihrer Kulturen durch Besinnung auf historische Gemeinsamkeiten, unter Einbeziehung der aus der Region Vertriebenen und auch deren Nachkommen."

Auch Alexej Schabunin, Redakteur des deutschsprachigen "Königsberger Express" mahnte: "Wenn sich die Situation nicht ändert, stehen wir vor einer Katastrophe." Diese würde dann unweigerlich auch alle Bemühungen zur Bewahrung des deutschen Erbes treffen. In jeder Beziehung hänge die Exklave "am Tropf" Moskaus. Dennoch oder gerade deswegen lasse sich feststellen, wie Schabunin später ergänzte, daß in der Region der "Haß" vieler Menschen auf die Machthaber in der russischen Hauptstadt zunehme. Ein realistisches Zukunftskonzept angesichts des ausgebliebenen offiziellen Engagements Deutschlands sei wohl nur die separate Einbindung der Region Königsberg in die EU.

Nach weiteren Vorträgen von Dr. Ivan Chalupecky, dem Direktor des Bezirksarchivs im slowakischen Leutschau, sowie Dr. Stanislav Burachovics, seines Zeichens Direktor des Museums im böhmischen Karlsbad, prophezeite der Ungar András Kocsis, daß es nach vier Jahrzehnten Verschweigen der Vertreibung als "kollektiver" Strafe selbst bei den deutschfreundlichen Madjaren mindestens noch zwanzig weiterer Jahre bedürfe, ehe ihnen wirklich bewußt werde, daß die "Aussiedlung" der Deutschen aus Ungarn eine Vertreibung war.

Wichtiger als Kirchen und Gebäude, Ortschaften und Denkmäler, die die Ungarndeutschen hinterlassen hätten, ist laut Kocsis deren geistiges Erbe. "Das Ideal dieser Deutschen bestand darin, die Fleißigsten, die Sparsamsten, die Tüchtigsten, zielbewußtesten Bürger des Landes zu sein."

Abgesehen von Siebenbürgen sei der Umgang mit dem deutschen Kulturerbe für die Masse der rumänischen Bevölkerung bis heute kein Thema, sagte Anca Derer, Dozentin am Bukarester Architekturinstitut. In den Schulbüchern werde weiter nur die "Geschichte der Rumänen" und nicht die Historie Rumäniens einschließlich der verschiedenen Volksgruppen gelehrt. Immerhin wolle die Regierung Hermannstadt in Kürze zum "Objekt von nationalem Interesse" ernennen – nicht zuletzt, um das Zugehörigkeitsgefühl zur europäischen Kultur- und Wertegemeinschaft zu unterstreichen.

Auch wenn ein Fahrplan zur Fortsetzung der Nürnberger Gespräche nicht bekannt wurde, gab es Ansätze, in welcher Form die Erhaltung des deutschen Kulturerbes weiter gefördert werden soll. So könnte ein überstaatliches Expertengremium als regelmäßiges Gesprächsforum eine wichtige Rolle spielen, um diese "Brückenfunktion" auszubauen und Empfehlungen an die zuständigen Politiker zu richten.

 
     
     
 
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