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Endlich die Initiative ergreifen

 
     
 
Das Umfeld des 60. Jahrestages des 8. Mai 1945 bietet - fast möchte man sagte letzte - Gelegenheit für Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs, diese Zeit aus persönlicher Kenntnis der Lebensumstände und des Geschehens jener Jahre darzustellen, es mit dem gebührenden zeitlichen Abstand zu bewerten und aus ihrer persönlichen Sicht zu kommentieren. Darum finden das Kriegs- und Nachkriegsgeschehen, ideologisch und politisch bedingte Verbrechen und Verfolgung derzeit verstärkt öffentliche Darstellung und Kommentierung.

Dazu gehört das Schicksal der Kriegsgefangenen, nicht nur derer, die auf den Rheinwiesen zu Tausenden umkamen, sondern auch derer, die in den sowjetisch
en Arbeitslagern in den Eiswüsten Sibiriens gequält wurden und ihr Leben verloren. Diese Kriegsgefangenschaft hat die Menschen geprägt und verändert, ebenso ihre Angehörigen, die sich mitunter schon auf ein Leben ohne den Gefangenen eingestellt hatten, der als vermißt galt ...

Ein Beispiel dafür ist das lesenswerte Buch "Vergessene Schicksale" des früheren österreichischen Abgeordneten Anton Bayr (Jahrgang 1927), das am 15. März 2005 im Hohen Haus der österreichischen Bundeshauptstadt vom ÖVP-Klub-obmann Wilhelm Molterer präsentiert wurde. "Die Geschichte gehört nicht nur in die Vergangenheit, sondern mitten in die Gegenwart", sagte Molterer. "Vielen Jugendliche in unserem Land sagt der Begriff Eiserner Vorhang nichts mehr. Für sie ist der Zweite Weltkrieg genau so weit weg wie der Dreißigjährige Krieg."

Mit dieser Feststellung trifft der österreichische Parlamentarier nicht nur die Lage in seinem Land, sondern auch die geschichtspolitische Situation in Deutschland. Darum sind Bücher wie die "Vergessenen Schicksale" (Weber Verlag, Augsburg 2005, 17 Euro) von so großer Bedeutung und bieten Gelegenheit zum Gespräch zwischen den Generationen. Die Initiative muß dabei wohl von den Zeitzeugen von einst ausgehen, was in vielen Fällen mühsam, aber letztlich nicht erfolglos sein wird.

Bayr beschreibt anhand des von ihm heimlich geführten Tagesbuchs seine zweieinhalbjährige Gefangenschaft im Ural und den Überlebenskampf von Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und Verschleppten in den sowjetischen Lagern. Er war 1945 als 17jähriger Wehrmachtsoldat von Tschechen gefangengenommen und an die Sowjets "weitergereicht" worden.

Die Lagerorte, in denen Bayr ein von Hunger, Kälte und härtester Arbeit geprägtes Leben führen mußte, lagen mitten im "Archipel GULag". Er begegnete dort auch anderen Opfern des sowjetischen Terrorregimes. Darum beschreibt Bayr auch eindrucksvoll das Schicksal von Rußlanddeutschen, Kalmücken und Krimtataren, die, individuell unschuldig, zu Opfern kollektiver Verfolgung wurden. Dazu gehörten auch die Lager für wolgadeutsche Frauen, die schon 1941 aus ihrer Heimat vertrieben und deportiert worden waren, aber auch die Lager für ehemalige Soldaten der Roten Armee, die im Krieg in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten und nach dem Krieg von den westlichen Alliierten an die Sowjets ausgeliefert worden waren. Primitivste Unterkünfte, die langen Winter mit durchschnittlich 20 bis 40 Grad Minus und die Hungerrationen waren das gemeinsame Schicksal aller dieser Opfer.

In seiner Autobiographie beschreibt Bayr sehr persönliche Erlebnisse des Lebens hinter Stacheldraht, den Lageralltag und den Überlebenskampf und die individuellen Überlebensstrategien. Ergreifend ist dabei die Schilderung einer weihnachtlichen Begegnung mit Wolgadeutschen am Heiligen Abend 1945: "Um Mitternacht - man stelle sich vor: mitten im Ural, bei mehr als 40 Grad Kälte - erklang auf einmal das Weihnachtslied ,Stille Nacht - heilige Nacht und noch dazu von Frauen gesungen! Die Leidensgenossinnen in dem Lager unmittelbar neben uns stammten aus der Deutschen Wolgarepublik ... Nun fingen auch wir zu singen an. Plötzlich war es einige Augenblicke lang Weihnachten im Ural. Die Bewacher waren zunächst sprachlos, dann begannen sie zu brüllen: ,Dawai, dawai! Das Lied brach allmählich ab. Traurigkeit und Trostlosigkeit umfingen uns wieder."

Diese und andere Schilderungen gibt Bayr in sehr persönlicher Art, bis hin zur Heimkehr im Jahr 1947 mit dem Autobus nach Pöggstall, wo er zuerst auf einen Jugendfreund traf: "Er, Lehrer, dunkelgrauer Wintermantel, gleichfarbener Hut, schwarze Lederhandschuhe, und schwarze Lederaktentasche. Und ich: Russenmantel, Schlosserhose, Gummischuhe - dazu ausgezehrt und kahlgeschoren. Auf der Fahrt sprachen wir kaum miteinander ..."

Im Nachwort seines Buches schreibt Bayr von einer jungen russischen Dolmetscherin, die ihm seine Personalakte aus der Gefangenschaft übersetzte und ihn fragte, ob er denn nicht gegenüber den Russen Haß empfinde. Bayr verneinte wahrheitsgemäß und konnte darauf verweisen, daß er zweimal nach dem Krieg in Rußland die Stätten seiner Gefangenschaft besucht und dort mit vielen Menschen gute persönliche Kontakte geknüpft habe. Über diese Besuche habe er in Deutschland Diavorträge gehalten und dabei Spenden gesammelt, die einem Krankenhaus im Ural und der Unterstützung des Deutschunterrichts in Solikamsk zugute kämen.

Ein gutes Beispiel dafür, wie aus einer schrecklichen Geschichte nach sechs Jahrzehnten eine friedliche Gegenwart und die Hoffnung auf eine gute Zukunft erwachsen kann.

Bedauerlicherweise ist uns in der letzten Ausgabe vom 19. März ein Fehler unterlaufen. Der Autor der abgedruckten "Gedanken zur Zeit" war nicht L. Opoczinski, sondern Gottfried Loeck. Ihre Redaktion
 
     
     
 
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