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Endstation für Klara

 
     
 
Im alten Ostdeutschland waren die Winter lang und kalt. Und weiß. Sehr weiß. Manchmal fuhr man schon im Oktober mit dem Schlitten zur Kirche, manchmal flockte es noch im Mai auf blühende Obstbäume. Und zu Weihnachten lag immer Schnee. An dem Fest, an dem unsere Geschichte spielt, sogar sehr hoch. Das hatte Tante Klara auch bewogen, sehr eindringlich darüber nachzudenken, ob sie wirklich zum Weihnachtsfest in das kleine Kirchdorf an der östlichsten Grenze zu ihrem Neffen und Patensohn Paul fahren sollte. Der hatte dort vor einigen Jahren eingeheiratet und die Wirtschaft des Schwiegervaters bereits übernommen. Nachwuchs war auch schon da, und so sollte es eine richtig schöne Familienweihnacht werden. Nun pflegten echte ostdeutsche Sippen nicht nur aus einer Tante samt Neffen zu bestehen. So war auch Tante Klara als lediges, ältliches Wesen in den Familien ihrer verheirateten acht Geschwister stets zum Fest herumgereicht worden, und da die meisten in der Stadt oder nicht weit entfernt wohnten, war das auch kein Problem gewesen. Aber nun sollte sie in dieses Kuhdorf fahren, das man nur mit Umsteigen in eine Nebenbahn erreichen konnte, deren Endstation eben dieser Ort war. Danach war die Welt zu Ende. Jedenfalls für Tante Klara. Die anderen Familien redeten der Zögerlichen gut zu, denn sie waren doch sehr erleichtert, sie diesmal nicht in ihrer Mitte zu haben. Zwar war die Bezeichnung „Familienübel“, die der älteste Bruder für seine sehr eigenwillige Schwester geprägt hatte, nur für den interne
n Gebrauch bestimmt, aber sie hatte schon einen wahren Kern. Vielleicht hatten zu hoch gesteckte Erwartungen, die nie erfüllt wurden, ihr Wesen geprägt. Jedenfalls war – milde gesagt – Tante Klara eine schwierige Person. Und so begann dann auch die Weihnachtsfahrt am Tag vor dem heiligen Abend sehr umständlich, und Tante Klara versicherte den Familienmitgliedern, die sie zum Bahnhof begleiteten, daß sie überhaupt keine Lust hätte, an solch einem unwirtlichen Ort das Fest zu verbringen. Die Eskorte atmete auf, als der Zug abgedampft war. Am Bahnhof der Kreisstadt, in der Tante Klara umsteigen mußte, erwartete sie ein entfernter Vetter, der sie mit allen Pacheidels und Paketen in das einzige 1. Klasse-Abteil der Kleinbahn verstaute und sie tröstete: „Verfahren kannst du dich ja nicht mehr, Klärchen, du fährst ja bis zur Endstation. Und da holt dich Paulchen ab.“ Es war also alles sehr gut geregelt. Glaubte man. Die Fahrt durch die tiefverschneite Landschaft fand Tante Klara durchaus nicht reizvoll, denn sie konnte nichts sehen, weil die kleinen Fensterscheiben mit Eisblumen überzogen waren. Demgemäß war es auch ziemlich kalt in dem Abteil, dessen rote Samtpolster kaum wärmten. Sie kuschelte sich tief in ihren mit Hamsterfell gefütterten Mantel und zog sich die Pelzmütze, die modisch mit einer Fasanenfeder geschmückt war, in die Stirn. Zum Glück – so fand Tante Klara – war sie allein in dem kleinen Coupé, was sich aber noch als unangenehm herausstellen sollte. Denn als seine einzige Insassin den dumpfen Ruf des Schaffners von irgendwoher vernahm: „Endstation, alles aussteigen!“, da war niemand da, der ihr mitsamt den Pacheidels heraushelfen konnte. Wutschnaubend öffnete sie eine der beiden Abteiltüren und – fiel von den vereisten Stufen bäuchlings in den Schnee. Tante Klara hatte nämlich die falsche Tür erwischt: die zum Bahnsteig war auf der anderen Seite. Und da der Bahnhof auf einer kleiner Höhe lag, bekam Tante Klara das Rutschen und schorrte den Abhang hinunter, an dessem Fuß sie zuerst einmal reglos liegenblieb. Es stiemte und alles war in weiße Watte gehüllt, die auch Tante Klaras Hilferufe erstickten. So dauerte es eine Ewigkeit, bis sie sich soweit aufgerappelt hatte, daß sie sich aufrecht setzen konnte. Die Pelzmütze war ihr weit über die Ohren gerutscht, die geknickte Fasanenfeder kitzelte ihre Nase. Mit verplierten Augen versuchte sie, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, von einem Haus oder einer Straße war aber nichts zu sehen. Die einzige akustische Wahrnehmung war der Pfiff der Lokomotive, die oben rangierte. Wut verleiht bekanntlich ungeahnte Kräfte. Tante Klara wühlte sich durch den Schnee den Hang hinauf, erreichte laut schimpfend auf diese Walachei, in der es nicht einmal einen vernünftigen Bahnhof gab, die Höhe und – fühlte sich plötzlich von hilfreichen Händen in ihr Abteil gehoben. Ja, es war ihr Abteil, denn da standen ja noch – zum Glück trocken und heil – die Pacheidels, die Tante Klara gewahrte, als sie sich den Schnee aus den Augen gerieben hatte. Sie sah aber noch etwas: einen älteren Herrn mit weißem Bart, der sie über die Ränder seines Kneifers verwundert anstarrte: „Ja, meine liebe Dame, wo kommen Sie denn her? Da unten ist doch nur die Grube vom Bahnbau!“ „Gibt es hier überhaupt einen Bahnhof in diesem elenden Nest?“ fauchte Tante Klara, „Aber ja, werte Dame, der ist auf der anderen Seite. Durch d in e Tür hätten Sie einsteigen müssen!“ Und er wies auf die gegenüberliegende Türe des Abteils, deren Fenster aber keinen Durchblick gewährte Tante Klara begann zu bibbern, denn der in den Hals gerutschte Schnee fing an zu tauen, die langen Röcke hingen klitschnaß um ihre Waden. „Ich, ich ...“, keuchte sie, „ich wollte a u s steigen!“ „Dazu, Verehrteste, ist es nun leider zu spät“, sagte der freundliche Herr und schaute sein derangiertes Gegenüber mitfühlend an, „denn wir fahren bereits!“ Tatsächlich, wie Tante Klara an dem Ruckeln und Zuckeln des Zuges bemerkte, der nun in die Richtung fuhr, aus der er gekommen war. Es dauerte eine Weile und mindestens fünf Haltestellen, bis sich die Lage für beide Insassen verständlich geklärt hatte. Tante Klara erzählte ihre Geschichte, der nette Herr im schwarzen Habit die Seine. Der aus Amt und Würden geschiedene Geistliche hatte seine ehe- maligen Schäfchen in der Grenzgemeinde besucht und eine vorweih-nachtliche Andacht abgehalten. Nun fuhr er zurück in die Kreisstadt, in der er seinen Alterssitz in einem Pfarrhaus hatte, nachdem seine Frau gestorben war. Der altgediente Seelenhirt hatte schon ganz andere Dickköpfe zur Raison gebracht. Und es gelang ihm tatsächlich, Tante Klara zum Zuhören zu bewegen und ihr zu erklären, daß man den kleinen Grenzort durchaus nicht als Kaff bezeichnen könnte, daß die Familie, in die ihr Neffe Paul geheiratet hatte, sehr angesehen sei und daß die Dame doch wohl auf eine wundervolle Weih-nachtsfeier verzichten müßte. Ja, das mußte sie nun, denn es fuhr kein Zug mehr an dem Tag, schließlich war es ja eine Kleinbahn. Und außerdem: So mitgenommen wollte Tante Klara sich nicht den neuen Verwandten zeigen, oh nein! Dafür hatte der alte Herr auch volles Verständnis. Als man in der Kreisstadt ankam, hatte man die denkbar günstigste Lösung gefunden: Tante Klara übernachtete zuerst einmal im Gästezimmer des Pfarrhauses. Neffe Paul, der ja vergeblich am Bahnhof gewartet hatte, wurde telefonisch verständigt, daß seine Patentante erst am Heiligen Abend käme. Der Herr Pfarrer wollte sie persönlich zum Zug bringen. Er brachte Tante Klara nicht nur zum Zug, sondern fuhr gleich mit. Denn Neffe Paul hatte, erlöst von der Ungewißheit über das Schick-sal seiner Patentante, ihn ebenfalls eingeladen. Er war nun einmal in seiner alten Gemeinde sehr beliebt. Und außerdem hatte man dann die Gewißheit, daß Tante Klara nun auf dem richtigen Bahnsteig landen würde. Es wurde ein sehr schönes Weihnachtsfest, und es war nicht das letzte, das Tante Klara und ihr Retter zusammen feierten. Denn zwischen beiden entwickelte sich eine erbauliche Altersfreundschaft, in der sich Tante Klara erstaunlich wandelte. Eine späte, aber geglückte Metamorphose, die schließlich zu einer christlich abgesegneten Verbindung führte. Das verlangte die Zeit, die man die gute, alte nennt, nun einmal so. Winterliches Idyll mit Tücken: Hoch türmt sich der Schnee auch auf Bahngleisen. /font>

 
     
     
 
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