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Hier schreibt ein Soldat, welcher sich in der von Generalen und Obersten wimmelnden NVA (besonders im Ministerium und den Teilstreitkraftkommandos) den ersten Generalsdienstgrad auf dem harten Weg in der Truppe und in Truppenstäben wirklich verdient hat: Zugführer, Kompaniechef, Stellvertreter des Stabschefs eines Mot.-Schützen-Bataillons, Frunse-Militärakademie (Moskau), Oberoffizier für operative Schulung eines Militärbezirks (im Krieg Armeekorps), Stellvertreter des Kommandeurs und Stabschef eines Mot.-Schützenregiments, Kommandeur desselben, Leiter der Operativen Abteilung eines Militärbezirks, Militärakademie des Generalstabes "Woroschilow" (Moskau), Stellvertreter des Chefs des Stabes für operative Arbeit im Militärbezirk, Kommandeur einer Mot.-Schützendivision, Stellvertreter des Chefs und Chef des Stabes im Militärbezirks, Chef der Verwaltung Organisation im Hauptstab der NVA.
In der mit Oberst- und Generalsdienstgraden sparsameren Bundeswehr wäre er bei diesem Werdegang sicherlich auch so weit gekommen. Allerdings hätte er sich niemals nur in dem Bereich eines Großverbandes (hier: eines Militärbezirks) hochdienen können und hätte auch Dienst im Ausland, bevorzugt in einem integrierten Stab, absolviert haben müssen.
Aber Integration war ja im Warschauer Pakt ein Fremdwort. Selbst in den von ihm besuchten Militärakademien hielt man die "Waffenbrüder" nach nationaler Zugehörigkeit apart.
Daß es entgegen den Befehlen, hauptsächlich von sowjetischer Seite, privat doch sogar zu Freundschaften kam, läßt sich als Sieg der Menschlichkeit in einem ansonsten sehr wenig menschenfreundlichen System bezeichnen.
Da machen Lehrgangsteilnehmer einer Militärakademie, die das Führen einer Division lernen sollen, eine wochenlange militärfachliche Exkursion ans Schwarze Meer, und es wird ihnen einmal "erlaubt", im Schwarzen Meer zu baden. Trotz jahrelanger Akademie-Lehrgänge: Auslandsgeld, Reisekosten, bezahlter Nachzug der Familie - Fehlanzeige. Zweimal allerdings wochenlanger Urlaub, ansonsten weder Oster- noch Weihnachtspause.
Auch wenn man als Offizier der NVA relativ gut versorgt war - es war sehr teuer erkauft: Bis zuletzt hatten Tag für Tag 85 Prozent des Personals in den Kasernen oder in der Nähe alarmbereit zu sein, obschon ja offen zutage lag, daß der Klassenfeind zu einem Angriff auf Knopfdruck gar nicht in der Lage war. Unfaßbar, wie hier die Soldaten und ihre Familien um ihr Leben betrogen wurden. Kameradschaftliches oder Gesellschaftliches, Kasinoabend-ähnliches oder Bälle, die wenigstens etwas Kompensation geboten hätten, gab es kaum, von übermütigen Leutnantsfeten ganz zu schweigen. Es fehlten schließlich Offizier- oder Unteroffizierheime als selbstverständliche Heimat. Wie wenig Freiheit des Worts, wenn selbst russische Witzeleien über den wodkafeindlichen "Mineralnij Sekretar" Gorbatschow als gewagt gelten. Welche Einsamkeit unter "Kameraden", wenn der Autor kein Wort zu den Offizieren seines Stabes über das sagen kann, was er empfindet, als er zum ersten Mal wieder den Ort seiner ersten Schule, Hitzacker an der Elbe, jenseits der Grenzanlagen sieht.
Alles wirkt bemüht ernst und freudlos sowie seltsam irreal, wie die für die Reithosen zu kurzen Stiefel der NVA. Es fällt schwer, für den dabei gezeigten bedingungslosen Gehorsam Verständnis aufzubringen. Mit "preußisch", wie es der Autor manchmal andeutet, hatte dieses System trotz gewisser äußerer Merkmale jedenfalls nichts zu tun. Denn ein preußisches "in Freiheit dienen", das ja auch in der Wehrmacht noch lebendig war, konnte in der NVA schon mangels personeller Kontinuität des Offizier- und Unteroffizierkorps nicht tradiert werden. Das System war von Anfang an, nach einem treffenden Ausdruck von Adenauer, "sowjetrussisch". Abschottung, eng begrenzte Kompetenz, aufgeblähte Stäbe, Mißtrauen, Kontrolle, letztlich Abtötung jeglicher Initiative außerhalb strenger Befehle. Beteiligung wichtiger Stellvertreter, wie des Chefs Raketentruppen und Artillerie, in die Ausarbeitung der Einsatzpläne? Divisionskommandeure und Chefs der Militärbezirke hatten ihre Befehle für den Kriegsfall mit ihren Stabschefs eigenhändig im Oberkommando der sowjetischen Truppen in Deutschland in dreifacher Ausfertigung auf russisch mit der Hand zu schreiben, vom sowjetischen Oberbefehlshaber genehmigen und dort unter Verschluß zu lassen. Was hätte diese Geheimniskrämerei, dazu ohne plangemäße Übungen, wohl für die Reaktionsfähigkeit der Truppe im Ernstfall bedeutet?
Der Truppenalltag bestand in ständiger Überforderung mit Übungen und Sonderaufgaben, einschließlich wochenlanger Paradevorbereitungen, Erntehilfe und sonstiger Einsätze für die Wirtschaft, die von meist truppenfremden, bis zu 27 Jahren denselben Sessel drückenden Spezial-"Generalen" der in der NVA bezeichnenderweise aus dem Russischen verfälscht mit "Verwaltungen" übersetzten Abteilungen des Ministeriums und der Stäbe ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt wurden.
Diese Kampfrede soll nicht gegen das Buch sprechen, im Gegenteil: Sie zeugt davon, wie wenig der Autor beschönigt, bis hin zu einer NVA-mäßig anmutenden Grammatik und Diktion, in der "nicht alle" gesagt wird, wo "kaum einer" gemeint ist, wo immer wieder die für ein atheistisches System merkwürdig klingende "heilige Pflicht" vorkommt und von "solider Kameradschaft" mit sowjetischen Truppen gesprochen wird, wo man bestenfalls ordentliche Arbeitsbeziehungen sehen kann.
Die Probleme der NVA, nicht ausreichende fachliche und führungsmäßige Qualifikation von Offizieren und Unteroffizieren, die starre sowjetrussische Führungspraxis im Paktsystem, die unterhalb der höheren Stäbe fehlende oder nur mangelhafte Beherrschung der russischen Führungssprache, ihre offene Ablehnung durch einige der Zwangsverbündeten und viele weitere Mängel werden genannt oder lassen sich zumindest herauslesen, ohne daß der Eindruck entsteht, hier werde aus heutiger Sicht geurteilt. Dies bezeugen besonders die Argumentationen für die offensive "Verteidigung" des Warschauer Pakts und für die "defensive" (kein Zitat) Besetzung Berlins sowie die Aussage, daß die politische Arbeit, mit der allein in einem Regiment sieben Offiziere beschäftigt waren (!), eine "komplexe Organisation" erforderte.
Der Autor steht zu seinem damaligen beruflichen Ehrgeiz und Verhalten, die ihm sowohl auf den Akademien als auch in der Praxis Bestnoten bescherten, schont weder sich ("uns fehlte der Mut", Mängel anzusprechen) noch einige andere, lobt viele Mitstreiter, dankt ihnen und zeigt seinen Stolz, unter schwierigen Umständen als Soldat seine Aufgabe bestmöglich erfüllt zu haben. Allenfalls sein politisches Engagement, zu dem er ja zumindest in seinen Chef- und Kommandeurstellungen verpflichtet war, bleibt unterbelichtet.
Das Buch mit seiner Fülle von Angaben, von denen hier nur einige Beispiele angeführt wurden, ist eine wahre Fundgrube für das Studium der NVA, speziell ihrer Landstreitkräfte, im Rahmen des Warschauer Paktes. Das eine ausführliche Rezension darstellende Vorwort von Generalleutnant a. D. von Scheven, des ersten Kommandierenden Generals der Bundeswehr im Osten, gibt wertvolle Anregungen. M. Backerra
Hans-Georg Löffler,: "Soldat im Kalten Krieg - Erinnerungen 1955-1990", Bd. 10 der Reihe Soldatenschicksale des 20. Jahrhunderts als Geschichtsquelle, Hrsg. Dermot Bradley, Biblio Verlag, Bissendorf 2002, gebunden, 380 Seiten, 63 Abb., 39 Eur |
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