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Erlebnisse auf der Flucht aus Sensburg im August 1914

 
     
 
Am 24. August 1914 traf am Nachmittag die letzte tele-graphische Nachricht aus Nikolaiken ein, daß bei Prawdowen eine stärkere russische Kavalleriepatrouille gesehen worden sei. Kurze Zeit darauf wurde eine solche Patrouille bei Bronikowen, vier Kilometer südlich Sensburg, gemeldet. Das Bezirkskommando, die Landsturmkompanie, die Kassen, die Post und der Rest der Bevölkerung verließen darauf Sensburg in Richtung Rößel. Ich glaubte noch nicht an eine bevorstehende Besetzung der Stadt durch die Russen. Abends etwa 9 Uhr wurde ich eines anderen belehrt, da etwa 40 russische Kavalleristen auf dem Hof des Kreishauses die Pferde
tränkten und Patrouillen aufstellten. Wir erwarteten das Eintreten von Russen; dieselben kamen aber nicht, und so ging ich um 1 Uhr zu Bett. Vor dem geöffneten Fenster hörte ich das Trappeln der russischen Pferde und schlief ein. Um 4 Uhr wurde ich geweckt mit der Nachricht, die Russen seien fort. Dem war aber nicht so. Ein auf der Rheiner Chaussee stehender Posten machte sich durch einen Schuß bemerkbar. Trotzdem wollten wir versuchen fortzukommen. Inzwischen hatten die Russen ihre Pferde in die Stadt zurückgeschickt. Am Kleinbahnübergang standen sechs Mann zu Fuß, an denen wir auf 80 Schritt vorbeifuhren; sie ließen uns ruhig abfahren.

In den Ortschaften Polschendorf, Klein Stamm, Sonntag, Warpuhnen, Giesewen war die ganze Bevölkerung auf die Nachricht vom Anrücken der Russen im Begriff fortzugehen. Wagen wurden beladen, Hühner und Enten geschlachtet, und alles setzte sich in Bewegung. In Dürwangen trafen wir auf zahlreiche Flüchtlinge aus dem Kreise Rößel, so daß ein Vorwärtskommen mit Wagen ausgeschlossen war. Also zu Fuß bis Rößel! Hier holte uns mein Wagen, den ein Gendarm vorgeholt hatte, ein. Die Stadt war vollgepfropft von Menschen, Wagen und Vieh; auf der Straße selbst Tausende von Wagen! Dabei kein Jammern und Klagen der Leute! Die ganze Vorwärtsbewegung vollzog sich in musterhafter Ordnung.

Nachmittags etwa 4 Uhr kamen wir vor Bischofstein an. Den Bahnhof hatten Flüchtlinge, wohl im Ärger, daß es nichts mehr zu verzehren gab, übel zugerichtet: kein Teller, kein Glas war heil, die Möbel zerschlagen. Die Stadt war von den Bewohnern verlassen, die Häuser aber törichterweise verschlossen. Licht und Wasser fehlten. Die 35. Reservedivision passierte die Stadt in Richtung Bischofsburg. Die ganze Nacht rückten Truppen in die Stadt, die verschlossenen Häuser wurden erbrochen und belegt.

Am 26. August früh ging die Fahrt nach Heilsberg weiter. Dasselbe Bild der Massenflucht. Wir kamen nun durch ganz verlassene Ortschaften, soweit sie nicht von Flüchtlingen schon vorübergehend belegt waren. Ein solches verlassenes Gehöft, auf dem nur einzelne zurückgelassene Tiere ihre Nahrung suchen, macht einen trostlosen Eindruck.

Vor Heilsberg machten wir halt, da die Straße für Kolonnen gesperrt war. Wir gingen zu Fuß zum Bahnhof, hatten bald Gewißheit, daß Züge nicht mehr gingen, und suchten nun ein Gasthaus auf. Es gab jedoch keine Verpflegung, da alles ausverkauft war. In der Stadt war weder Brot noch Fleisch, noch Wurst zu haben. Freundlich wurden wir, durch Vermittlung des in Heilsberg anwesenden Pfarrers Großmann, in der katholischen Pfarre aufgenommen und verpflegt.

Zeitweise glaubten wir Kanonendonner zu hören; in der Menge der Flüchtlinge rief das eine bemerkbare Unruhe hervor. Alles drängte vorwärts, trotz müder Pferde und müder Viehherden, für die der bestehende Wassermangel unangenehm wurde.

Am Wege nach Wormditt lagen schon verendete Kühe und Schweine; auch erlebten wir die Beerdigung eines auf der Flucht verstorbenen Kindes im Walde. Die Unterkunft in Wormditt war schwierig. In meinem Gasthause waren mehr als hundert Flüchtlinge untergebracht; man kann sich den Betrieb auf Treppen und Fluren denken.

Am nächsten Morgen fuhr ich über Basien und Schlodien bis zum Bahnhof Mühlhausen. Hier sollte mittags ein Zug nach Westen gehen. Der traf auch ein – in der Hauptsache besetzt mit Landwehr und Freiwilligen, die zu ihrem Truppenteil wollten. Eine interessante Fahrt, überfüllt der Zug, doch vorzügliche Stimmung bei allen Leuten.

In Sensburg traf ich am 8. September 1914 wieder ein. Eine fast menschenleere Stadt fanden wir, die aber von den Russen – im Gegensatz zu vielen anderen Orten – in der Zeit ihres Hierseins vom 24. bis 28. August sehr wenig gelitten hatte und nicht zerstört war.

Gekürzte Fassung eines zeitgenössischen Berichts, aus: Karl Templin, Unsere masurische Heimat, Sensburg 1926.

 
     
     
 
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