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Vor einigen Jahren initiierte der bis vor kurzem in Berlin ansässige, jetzt von einem US-Konzern übernommene Siedler-Verlag ein ambitiöses Buchprojekt zur mittelalterlichen Geschichte. "Die Deutschen und ihre Nachbarn" sollte es zunächst heißen; glücklicherweise wurde dieser nach wohlfeiler Politrhetorik schmeckende Titel noch geändert, und die vierteilige Reihe heißt nun "Die Deutschen und das europäische Mittelalter". Die vier Bände, die ausgewiesenen Fachwissenschaftlern anvertraut worden sind, gelten je einer Himmelsrichtung: Der Berliner Emeritus Joachim Ehlers bearbeitet "Das westliche Europa", seine Kollegin Marie-Luise Favreau-Lilie "Italien" (also unter Ausblendung anderer südeuropäischer Nachbarn), und gestartet ist die Reihe schon 2003 mit dem von den beiden Drontheimer Mediävisten Birgit und Peter Sawyer verfaßten Nordeuropa-Band unter dem unnötig sensationalistischen Titel "Die Welt der Wikinger". Der engagierte Siedler-Verlag hat die hochwertig ausgestatteten Bände mit angemessenem Nachdruck in der Öffentlichkeit vorgestellt: Die Präsentation des ersten Bandes etwa fand im Gebäude der Nordischen Botschaften in Berlin statt.
Nun ist der zweite Teil anzuzeigen: Christian Lübke, Professor für Osteuropageschichte an der Universität Greifswald, verfaßte "Das östliche Europa". Dieses versteht er, wie im Vorwort erläutert wird, vor allem als die slawische Welt (Byzanz bleibt also ausgespart, ebenso übrigens wie der Balkan), namentlich Polen, Böhmen und Rußland sowie das ugrische Ungarn. Sehr zu begrüßen ist die gleichgewichtige Einbeziehung Rußlands; das Buch stellt sich damit jenen in den Weg, die "Europa" mit dem Abendland gleichsetzen und das griechische, orthodoxe Erbe unseres Kontinents gern in Abrede stellen. Um so bedauerlicher ist das Fehlen des baltischen Nordostens. Die Hansestadt Reval wird im ganzen Buch dreimal erwähnt. Selbst Königsberg wird nur zweimal, die Marienburg gar nur einmal im Nachwort genannt. Sowohl der Deutsche Orden als auch die Pruzzen, Letten und Esten fallen aus der Betrachtung fast vollständig heraus - das "östliche Europa" hat in diesem Buch einen großen weißen Fleck.
Die Geschichte der Slavonia und ihrer Beziehungen zum ostfränkischen und Heiligen Römischen Reich zeichnet Lübke vom Beginn der Überlieferungen im 8. bis zum Ende des 14. Jahrhunderts überwiegend in zuweilen kleinteiliger Politik- und Ereignisgeschichte nach. Lebensformen und Mentalität der mittelalterlichen Osteuropäer nehmen wenig Raum ein, dynastische Allianzen, Kriegszüge und Friedensschlüsse dafür um so mehr. Es ist eine solide, fast mängellose Darstellung, der der Leser viel entnimmt, das in unserer auf die Westbindung fixierten Gegenwart weithin unbekannt ist - wenige wissen etwa, daß die sogenannten "Visegrad-Staaten" (Polen, Ungarn, Tschechien/Slowakei) ihre Allianz nicht zufällig an einem Ort schlossen, an dem sich ihre Könige bereits 1335 einmal zu einer mittelalterlichen Gipfelkonferenz getroffen haben.
Doch derlei Kontinuität schafft auch Probleme. Wenn von der "Bildung von Staaten und Nationen" im 10./11. Jahrhundert die Rede ist, dann wird ein Mittelalter suggeriert, das direkt in die Gegenwart mündet. Es nehmen die osteuropäischen Nationalstaaten ja gern für sich in Anspruch, in direkter Linie mit den Königtümern vor tausend Jahren verbunden zu sein - wie auch bei uns immer noch manche die Kaiser des Mittelalters für "deutsche" Herrscher halten. Vor der Inanspruchnahme der Vergangenheit durch moderne Politideologie sind bekanntlich nicht einmal die alten Griechen und Ägypter sicher; um so entschiedener müßte ein modernes Geschichtswerk wie dieses betonen, daß keine direkte Linie die Ottonen, Piasten und Arpaden mit dem modernen Deutschland, Polen und Ungarn verbindet, sondern daß derlei Bezüge immer modern fabrizierte Geschichtsmythen sind und ihre Nutznießer in der Gegenwart haben. J. Liebenau
Christian Lübke: "Die Deutschen und das europäische Mittelalter - Das östliche Europa", Siedler-Verlag, München 2004, geb., zahlr. Abb., 544 Seiten, 60 Euro |
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