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Der EU-Gipfel von Laeken hat Mitte Dezember den früheren französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing zum Vorsitzenden des Europäischen Konvents gewählt, der Vorschläge für eine tiefgreifende Reform der europäischen Institutionen ausarbeiten soll. In Laeken wurde nämlich zugleich beschlossen, daß die Osterweiterung der EU bis 2004 abgeschlossen sein sollte. Wenn dieses Ziel auch als etwas zu ehrgeizig angesehen werden kann, liegt es trotzdem auf der Hand, daß ohne die angestrebte Reform die EU mit 25 Mitgliedern statt der sechs Gründer des Gemeinsamen Marktes von 1957 nicht mehr arbeitsfähig sein wird und kann. In dieser Hinsicht möchte Giscard nach Angaben des konservativen „Figaro“ dieselbe Rolle als Vorsitzender des Konvents spielen, die der Belgier Paul-Henri Spaak nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vor dem französischen Parlament 1955 in Messina beim Schaffen der Europäischen Wirtschafts gemeinschaft gespielt hatte.
Für den Präsidenten der Französischen Republik ist es in dieser ganzen Angelegenheit kurfristig das Wichtigste, daß der Altpräsident sich nicht in die Präsidentenwahlen im Frühjahr einmischen will. Die Wahl Giscards an die Spitze des europäischen Gremiums ist insofern also für Chirac mit der Hoffnung verbunden, daß die von seinem Vorgänger kontrollierten Liberalen der „Union pour la Démocratie Fran-çaise“ (UDF) beim zweiten Wahlgang einschwenken werden.
Einige Sozialisten hatten hingegen die Wahl Jacques Delors’, des langjährigen Vorsitzenden der EU-Kommission und ehemaligen Wirtschaftsministers François Mitterrands, zum Präsidenten des Konvents befürwortetet. Anscheinend wünschten dieses jedoch weder der französische Regierungschef Lionel Jospin noch Bundeskanzler Gerhard Schröder, und so wurde Giscard gewählt. Seine beiden Beigeordneten werden der Italiener Giulano Amato und der Belgier Jean-Luc Dehaene sein. Insgesamt wird der Ausschuß etwa 100 Mitglieder zählen. An seiner Spitze wird ein Präsidium aus zwölf Personen stehen.
Abgesehen von den inneren Aspekten der französischen Politik erwartet die führende Pariser Wirtschaftstageszeitung „Les Echos“ von der Wahl Giscards eine Zügelung des zentralistischen Anliegens anderer EU-Staaten. So hatte der Altpräsident in seinem letzten Buch erklärt, es gehe darum, den Europäern „eher einen Raum von Freiheit als einen Raum von Integration“ zu gewähren. Die Tatsache, daß ein zweiter französischer Politiker, der EU-Kommissar und Neo-Gaullist Michel Barnier im Gremium sitzen wird, läßt erwarten, daß die französische Diplomatie besonders aktiv in der ganzen Angelegenheit sein wird. Einen natürlichen Verbündeten im Kampf gegen zentralistische Tendenzen in der EU hätte sie dabei in den Briten. In den französischen Zeitungen waren keine Grundsatzartikel über die Ziele des Quai d’Orsay in dieser Angelegenheit zu lesen.
Allein die christlich-demokratische Tageszeitung „Le Croix“, die unabhängig und europäisch gesinnt ist, bemerkt in einem Leitartikel, es handele sich für Valéry Giscard, der seit seiner Niederlage 1981 gegen Mitterrand in der Elysée-Wahl immer wieder gescheitert war, bei dem Amt des Vorsitzenden des Europäischen Konvents „nach zwei Jahrzehnten von Bitterkeit um eine schöne Herausforderung“ und eine Chance, erneut eine größere Rolle zu spielen. Der Altpräsident hat sich laut „Le Figaro“ als Vorbild einen anderen Altpräsidenten, nämlich Raymond Poincaré, genommen. Diesem Hausherrn des Elysée-Palasts während des Ersten Weltkriegs gelang es 1922 Premier zu werden. Das europäische Abenteuer Giscards ist also vielleicht noch nicht beendet.
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